Kolumne "Wissenstransfer" : Lehren aus der Genesis: Die digitalisierte Produktion als Zukunftsparadigma

WEKA Industriemedien

Univ.-Prof. Friedrich Bleicher (links) ist gelernter Maschinenbauer und Vorstand des Instituts für Fertigungstechnik und Photonische Technologien an der TU Wien. Als diplomierter Betriebswirt der Universität Innsbruck und Maschinenbauingenieur kann Hannes Hunschofsky fast 40 Jahre Erfahrung in Führungspositionen bei namhaften Industrieunternehmen im In- und Ausland vorweisen.

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"Let’s not have several Standards. One Standard will do just fine."
In Anlehnung an George Carlin

Tja, die digitalisierte Produktion – eine Vision schier unüberschaubarer Komplexität. Dazu die Errungenschaften der Künstlichen Intelligenz, Daten-Services, Schnittstellen und neuerlich auch ein Mehr an Regularien. Nach den Hypes in der Computer Integrated Manufacturing (CIM)-Zeit der 80er und 90er Jahre, der Industrie 4.0 (die Autoren sprechen sehr bewusst Industrie 5.0 nicht an) in den 2010er Jahren und nun mit der Künstlichen Intelligenz zieht sich unverändert der Drang zu einer umfassenden Digitalisierung in der Produktion als roter Faden durch unsere Paradigmen für eine künftige, wirtschaftliche Produktion. Diese Visionen werden stets als Antwort auf gegebene und vermeintliche Wettbewerbsnachteile in unseren Breiten gesetzt. Wie gesagt, ein beliebig komplexes Thema.

Es bietet sich an, sich einer Allegorie als rhetorisches Stilmittel zu bedienen, um dieses Thema zu diskutieren. In der Literatur und in der Kunst wird dies oft verwendet, um tiefergehende Bedeutungen und Interpretationen von Sachverhalten zu ermöglichen. Die Allegorie als Stilmittel gehört zur Gruppe der Tropen, bei der ein abstrakter Begriff durch ein sprachliches Bild umschrieben wird. Der Begriff leitet sich vom altgriechischen Wort „allegoría“ ab und definiert sich am besten über die Bedeutung „verschleierte oder andere Sprache“. Wir brauchen zur Diskussion der digitalen Produktion also ein Bild für ein großes Ziel – wollen wir in der Produktion doch hoch hinaus. Es soll Großes geschaffen werden, viele Proponenten tummeln sich, es passiert viel an Kommunikation, usw. Schnell kommt einem da das Gemälde von Pieter Bruegel in den Sinn: Der große Turmbau zu Babel, eine wundervolle Metapher für das menschliche Streben nach Großem; 1563 erstellt von einem genialen Künstler – und zu bewundern im Kunsthistorischen Museum in Wien, falls jemand aus der TechnikerInnen-Community der Sache im Detail nachgehen will (dies liegt dem Technikergeist ja nahe). Die Geschichte vom Turmbau zu Babel bezieht sich auf das Alte Testament (Gen 3–11), zeitlich nach der Sintflut und vor der Reise Abrahams nach Haran einzureihen, und beschließt eine Reihe von Verfehlungsgeschichten. Theologen, also jemand mit eher weniger naturwissenschaftlichem Hintergrund, werten das Turmbau-Vorhaben bzw. dessen Narrativ als Versuch der Menschheit, Gott gleichzukommen. Angesichts dieser augenscheinlichen Selbstüberhebung der Menschheit bringt Gott den Turmbau ohne sichtliche Intervention zum Stillstand, indem er eine Sprachverwirrung hervorruft, welche die Erbauer wegen unüberwindbarer Verständigungsschwierigkeiten zur Aufgabe des Projektes zwingt (Gen 11,7-8).

Wenden wir uns nun der Allegorese zu, also der allegorischen Deutung. Würde man nun aus technischer Brille betrachtet zurückblicken, dann könnte man schnell größte Analogien zu den oben genannten visionären Ansätzen der Digitalisierung in der Produktion finden können. So endet also die Weiterarbeit am großen Ziel – dem Turm – gezwungenermaßen, weil die aufgetretene Sprachverwirrung die notwendige Verständigung der am Turm bauenden Menschen untereinander so gut wie unmöglich macht.

Ist es nicht so, dass wir mit der steigenden Komplexität in der Digitalisierung, aber auch den erweiterten Möglichkeiten der technologischen Lösungen, auf ein „Sprachgewirr“ stoßen. Unterschiedliche IT-Plattformen sollen zusammenarbeiten, Schnittstellenformate, verschiedene Kommunikationsstandards und eben auch die schon oben angesprochenen Regularien wie NIS2 bauen uns einen hohen Turm auf, der unter den skizzierten Rahmenbedingungen wohl nicht zu erstellen ist. Aber auch hier könnte man eine hintertriebene Menschlichkeit identifizieren. Sollte der Turm der digitalisierten Produktion vielleicht einmal errichtet sein, wem „gehört“ er denn dann? Sprich, wer profitiert wirtschaftlich davon? Nicht selten hört man hinter vorgehaltener Hand, dass man als OEM eine komplett offene und einfach zu betreibende Systemarchitektur zur Verfügung stellen würde, sofern der Anwender nur die hauseigenen Komponenten verwendet. Irgendwie versteht man also mancherorts, dass der große Turm aus einem Wald aus einzelnen Türmchen bestehen sollte. Damit wird es aber nichts mit dem großen Bauprojekt. Was in der Allegorie des Turmbaus zu Babel von Gott offensichtlich eingebremst wurde, bewirkt im technischen Umfeld, der freien Marktwirtschaft, also im B2B-Umfeld, das Streben nach wirtschaftlichem Vorteil.

Vielleicht könnten wir Anleihe nehmen an einem historischen Beispiel, wie die Zusammenarbeit der OEMs nicht nur einen internationalen Standard, sondern einen globalen Markt entwickeln kann. Am 28. August 1963 stellte Philips auf der 23. Großen Deutschen Funk-Ausstellung in Berlin die Kompaktkassette und den zugehörigen, mit Transistoren bestückten Kassettenrekorder Philips EL 3300 vor. Schnell kamen Grundig, Sears und natürlich einige Japaner mit alternativen Formaten auf den Markt, alle in der Hoffnung, einen Teil des technologischen Kuchens zu bekommen. Erst als Philips-Direktor Lou Ottens dem damaligen Sony-Chef Norio Ohga die Lizenzen der Kompaktkassette kostenlos zur Verfügung stellte, unter der Maßgabe einen internationalen Standard zu entwickeln, brachten unterschiedliche Hersteller weltweit Kassettenrecorder heraus, die alle auf dem Standard der Kompaktkassette aufbauten. Mit einem ähnlichen Vorgehen würde dem Turmbau zu Babel einer digitalisierten Produktion die notwendige Basis einer gemeinsamen Sprache verschafft. Ein Standard für alle. Amen, so sei es.

Ach ja: Die Wortwurzel von „Amen“ liegt im hebräischen Verbum für „fest/zuverlässig sein“ und bedeutet als Substantivum „Emuna“ im Hebräischen so viel wie Glaube, Zuversicht, Treue. Besser könnte man damit wohl diesen Absatz nicht schließen.

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