Kolumne „Wissenstransfer“ : Über das Heucheln und die Liebedienerei

WEKA Industrie Medien

Univ.-Prof. Friedrich Bleicher (links) ist gelernter Maschinenbauer und Vorstand des Instituts für Fertigungstechnik und Photonische Technologien an der TU Wien. Als diplomierter Betriebswirt der Universität Innsbruck und Maschinenbauingenieur kann Hannes Hunschofsky fast 40 Jahre Erfahrung in Führungspositionen bei namhaften Industrieunternehmen im In- und Ausland vorweisen.

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Lassen Sie uns einen Rückblick vorausschicken: Vor etwa einer Dekade diskutierten die Autoren, also wir beide, über das, was bei zukünftigen Fertigungssystemen wichtig werden würde. Ein Ergebnis dieser Diskussion war das „Austrian Center for Advanced Manufacturing Systems“. Damit wurde der Grundstein für eine Initiative gelegt, die den Schwerpunkt von Forschungs- und Innovationsaktivitäten auf Produktionstechniken für die Einzelteilfertigung (High-Mix/Low-Volume) legen sollte. Im Mittelpunkt der Zielsetzungen stand und steht die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit durch Kostenreduktion und Produktivitätssteigerung in der Fertigung von Kleinstlosgrößen. Darauf aufbauend und zusammen mit den Co-Autoren Christoph Magnet (Hoerbiger) und Gernot Mauthner (TU Wien/IFT) erschien 2017 unter dem Titel „1-1-1 Turning High- Mix/Low-Volume Manufacturing from a Constraint into a Competitive Advantage“ eine Vision, die im internationalen „Journal of Material Science and Engineering“ veröffentlicht wurde. Dabei wird das auf Verschwendungs-Vermeidung ausgelegte Toyota-Produktionssystem relativiert und um weitere Elemente ergänzt, welche für die Einzelstück- und Kleinserien- Produktion essenziell sind. Wie gesagt, all das hat vor dem Hintergrund der Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit, der Kostenreduktion und der Produktivitätssteigerung zu funktionieren.

Hoerbiger Wien hat seitdem an der praktischen Umsetzung dieser Strategie gearbeitet. Einer der Autoren hatte vor kurzem das Vergnügen, eine Einladung zu erhalten, um die Ergebnisse einer neuen fortschrittlichen Fertigungszelle mit eigenen Augen zu begutachten. Und tatsächlich: Die Umsetzung der einstigen Vision hat ein ordentliches Format angenommen, man kann den Mitarbeitenden von Hoerbiger zu dem beeindruckenden Ergebnis nur herzlich gratulieren. Interessant war zudem, dass sich die ursprüngliche Zielsetzung verschoben hat. So ist die Wettbewerbsfähigkeit natürlich immer noch Thema, und auch der Fokus auf Kostensenkung bleibt in jeder Produktion omnipräsent. Aber die vollautomatische Zelle, die ohne permanenten Maschinenbediener auskommt und 24/7 betrieben werden kann, schafft vor allem eines: Sie schließt die Lücke an qualifiziertem Personal für die CNC-Fertigung.

Maschinisten, so scheint es, sind vollständig vom Arbeitsmarkt verschwunden. Um eine Produktion heute aufrechtzuerhalten, braucht es die Automatisierung – und nein, diese zerstört keine Jobs, sondern springt für fehlende Fachkräfte ein. Und obwohl schon 2013 im Atlantic Council Bericht „Global Responses to the Skills Gap“ vor dem kommenden Fachkräftemangel gewarnt wurde, hätte man sich die Auswirkungen auf Österreichs Industrie zehn Jahre später nicht in diesem Ausmaß vorgestellt. Dass es für die Politik und die Verbände schwer ist, das Angebot und den Bedarf in spezialisierten Berufen zu steuern, wissen wir seit längerem. Es sind oft die Details, die von größerer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Komplexität geprägt sind.

„Stell dir vor, es gibt einen JOB, und keiner geht hin!“
... frei nach Carl Sandburg

Ein Beispiel gefällig? Wir propagieren in Österreich einen Ärztemangel. Das ist Wasser auf die Mühlen von Interessenvertretungen, die daraus gleich einen Bedarf an einer erweiterten akademischen Ausbildung ableiten. Dass parallel dazu Statistiken veröffentlicht werden, wonach wir in Österreich im EU-Vergleich die mit Abstand höchste Fachärztedichte aufweisen, ist in diesem Kontext bemerkenswert. Vielleicht hilft das bei der Erkenntnis, dass möglicherweise die Rahmenbedingungen und die Finanzierung der allgemeinmedizinischen Versorgung im Argen liegen? Und dass, ganz pragmatisch, deshalb keiner den Job machen möchte?

Aber wie sieht das in der Fertigungstechnik aus? Hier bedarf es der Begriffsdefinition. Aus dem mittelhochdeutschen Wort „hūchen“ leitet sich der Begriff der Heuchelei ab. Wenn man es mit altgriechischem Hintergrund haben möchte, kann man gerne auch von Hypokrisie sprechen. Das dem Mittelhochdeutschen zugrundeliegende Verbum „heucheln“ stammt ursprünglich vom unterwürfigen Ducken und Kriechen des Hundes ab und wurde auf vorgespieltes, schmeichelndes Verhalten übertragen; also das Vortäuschen nicht vorhandener Gefühle, Eigenschaften oder Ähnlichem. Friedrich Kirchner, Philosoph und Theologe, definierte Heuchelei als eine „aus selbstsüchtigen Interessen entspringende Verhüllung der wahren und Vorspiegelung einer falschen, in dem Betreffenden nicht vorhandenen lobenswerten Gesinnung“. Vorgeheuchelt werden „politische, religiöse, ethische Grundsätze, um vorwärts zu kommen“, sei es aus Feigheit, des Broterwerbs oder der „Liebedienerei“ wegen.

Liebedienerei, ein wunderbarer Begriff. In der Fertigungstechnik orten die Autoren eine solche in der Beurteilung der Motivation der Jugend, sich für Technologie zu interessieren. Wenn wir einerseits die vermeintlich enden wollende Zukunftsperspektive der Produktion in Hochlohnregionen öffentlich diskutieren; wenn die Interessenvertretungen sich darin üben, der Politik die dramatische Zukunftssituation hinsichtlich Energiekosten, Personalkostensteigerung und Co. vorzugsweise über die Medien zu berichten; dann kann man wohl davon sprechen, dass ein Wehklagen über mangelndes Interesse der Jugend an diesem Broterwerbsbereich wohl unter das „Vortäuschen nicht vorhandener Gefühle, Eigenschaften oder Ähnlichem“ fallen könnte.

Faktisch steht einem derzeitigen Fachkräftemangel auch eine Einschnürung der Bevölkerungspyramide gegenüber. Zwischen der Generation X und der Generation Z fehlen uns rund 20 Prozent an Geburtenrate, egal ob der Chromosomensatz zwei gleiche Buchstaben oder eine unterschiedliche Buchstabenkombination aufweist. Einige Literaturstellen sprechen vom „silver tsunami“: Es schwemmt uns also die Fachkräfte aus den Betrieben. Ein simples Kochrezept dagegen ist, Jobs einerseits zu attraktivieren und andererseits so zu vereinfachen, dass eine niederschwellige Ausbildung das Bedienen von immer komplexer werdenden Anlagen und Maschinen ermöglicht. Um also Mitarbeitende für die Produktion zu gewinnen, um immer komplexer werdende Maschinensysteme hochproduktiv zu betreiben, entsteht der Bedarf an neuen Bedienkonzepten, die auch die persönliche Rolle des bzw. der Einzelnen berücksichtigen. Diese müssen intuitiv, einfach, niederschwellig, selbsterklärend und Fehler vermeidend usw. sein. Sie müssen für informationsgeleitete Mitarbeitende in einer datengetriebenen Fertigung ausgelegt sein.

Wie liest eine hochausgebildete Fachkraft diese Darstellung? Diese Personen versuchen, möglichst viel an Funktion aus den Betriebsmitteln herauszuholen, suchen komplexe Funktionen für komplexe fertigungstechnische Aufgaben. Den Lösungsraum geben uns hierfür die Möglichkeiten der Digitalisierung vor. Einerseits gewöhnen wir uns mehr und mehr an die Fertigungsphilosophie der additiven Fertigung, des 3D-Drucks (ein völlig irritierender Begriff für eigentlich hochenergetische metallurgische Prozesse der Metallschmelzung zur Herstellung von Bauteilen z. B. im Pulverbett-Prinzip), wo wir nur mehr eine Steuerinformation an eine Maschine senden und diese verrichtet dann vollautomatisch das gewünschte Gewerk nach abgelegtem Expertenwissen. Zusätzlich bilden wir über digitale Abbilder des realen Prozesses mehr und mehr den späteren wertschöpfenden Vorgang ab und optimieren diesen schon vorab. Danach wird die Steuerinformation den Maschinensteuerungen übermittelt und der Prozess läuft dann ohne weitere Eingriffe ab – mit hohem Automatisierungsgrad.

Hier wird die Zukunft liegen. An den Maschinen wird vorzugsweise nur mehr die Wartungsaufgabe verrichtet, das eigentlich Produktive passiert über eine Remote-Bedienung der Anlagen. Der Programmierplatz kann somit auch an das Wissen der handelnden Personen angepasst werden; ähnlich wie es die „Gamification Community“ bereits für die Computerspiele zur Anwendung bringt. Je mehr Expertise eine Person aufweist, desto mehr an Funktion wird freigeschaltet. Die Steuerungen an den Maschinen werden vorwiegend für die Maschinenwartung und -einstellung genutzt werden.

Was lernen wir daraus: Es ist wohl sehr zu erwarten, dass der Faktor der Ausbildung zum Umgang mit digitalen Technologien zusammen mit den fertigungstechnischen Kompetenzen zukünftig die Voraussetzung für eine berufliche Verankerung darstellt. Das wäre die Möglichkeit, das Berufsbild des Fertigungstechnikers neu und attraktiv auszurichten

Damit zurück zur Einleitung: Wir sollten die wunderbare digitale und ressourcenschonende Welt der zukünftigen Fertigung mit höchster Wertschöpfung und Produktivität ins richtige Licht rücken. Ansonsten geht uns das Licht aus, und nicht, weil wir die „light out production“ bereits etabliert hätten. Wir sehen heute viele Berufsgruppen, wo es rasch Korrekturen bedarf: die Lehrkräfte, das Pflegepersonal und die Ärzte. Gestalten wir die Ausbildung zum Fertigungstechniker adäquat, um die interessanten und gut bezahlten Jobs mit Maschinisten der zukünftigen Generation zu füllen. Gemäß dem Motto, frei nach Carl Sandburg:

„Sometime they´ll give a Job and everybody will come."

Über die Kolumne

In „Wissenstransfer“ reflektieren zwei Masterminds der Produktionsszene an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis, wie aktuelle Aufgaben der Automatisierung mit innovativen Technologien und kreativen Zugängen gelöst werden können. Homebase der beiden ist das österreichisch-deutsche Forschungsprojekt EuProGigant: EuProGigant ist das Leitprojekt für GAIA-X im Produktionsumfeld zum Aufbau eines standortübergreifenden, digital vernetzten Produktionsökosystems.