Zukunftstechnologie : Kann uns Wasserstoff aus der Abhängigkeit von Russland befreien?

Verspricht man sich zu viel von dieser Technologie oder kann das wirklich in so kurzer Zeit in die Unabhängigkeit von fossilen Energien aus Russland und anderen problematischen Staaten führen?

Katharina Kocher: Der REPowerEU-Plan kann dazu beitragen, Europa deutlich unabhängiger von fossilen Brennstoffen zu machen. Elektrolysetechnologien zur Produktion von grünem Wasserstoff sind aus technischer Sicht gut etablierte, effiziente Verfahren. Kurzfristig wird Wasserstoff in erster Linie bei sehr energieintensiven industriellen Prozessen, in der Chemieindustrie und im Schwerlastverkehr zum Einsatz kommen. Langfristig kann Wasserstoff über Power-to-Gas und das Gasnetz als ausreichend verfügbarer Langzeit-Speicher für Stromüberschüsse eine wichtige Rolle spielen. Angesichts begrenzter Potenziale für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen wird Österreich dennoch klimaneutralen Wasserstoff importieren müssen. Ich bin davon überzeugt, dass gerade am Beginn eines solchen Transformationsprozesses auch eigene Erzeugungsanlagen in Österreich notwendig sind. Trotz eines gewissen Hypes um Wasserstoff ist dieser Energieträger nicht alleiniges Wundermittel. Das Energiesystem der Zukunft wird ein Mix aus unterschiedlichen alternativen Technologien sein.

Es gibt einige Industrieprozesse, die sich nicht oder nur schwierig elektrifizieren lassen, zum Zukunftstechnologie Beispiel die Stahlerzeugung oder die Ammoniakproduktion. Aktuell wird dafür meist Kohle oder Erdgas genutzt. Wie schätzen Sie derzeit die Nachfrage und das Potenzial in der Industrie ein?

Kocher:
In der Industrie ist Wasserstoff keine Neuheit und wird seit Jahrhunderten als Grundstoff verwendet. Bekannteste Beispiele sind wohl das Haber- Bosch-Verfahren oder der Einsatz in Raffinerien zur Herstellung von Diesel und Benzin. Auch in der Stahlerzeugung und bei der Produktion von Ammoniak wird Wasserstoff als Grundstoff eingesetzt. Wir alle nutzen im täglichen Leben Produkte – wie etwa Handys und Tablets –, die mit Einsatz von Wasserstoff erzeugt wurden. Wasserstoff fungiert als ein Bindeglied zwischen der stofflichen und der elektrischen Welt. Wird Wasserstoff aus erneuerbaren Stromquellen nicht direkt in industriellen Prozessen verarbeitet, kann er gespeichert und zu einem späteren Zeitpunkt wieder in Energie umgewandelt werden.

TÜV SÜD Österreich
Katharina Kocher ist Expertin für Wasserstoff und Wasserstofftechnologien im Geschäftsbereich Green Energy & Sustainability bei TÜV SÜD Österreich. - © TÜV SÜD Österreich
Auch in der Industrie sehen wir steigende Nachfrage, Vorbereitungen zum Einsatz von Wasserstoff laufen auf Hochtouren.

Mit TÜV SÜD haben Sie schon einige Projekte durchgeführt. Was sind die bisherigen Erfahrungen?

Kocher: Wasserstoff wird seit Jahrzehnten als Energieträger gepriesen, ist bisher im konkreten Einsatz aber in Versuchsstadien verblieben. Im vergangenen Jahr erfuhr Wasserstoff einen massiven Auftrieb, als Regierungen diese Energiequelle als Lösung klimapolitischer Herausforderungen definiert haben und entsprechende Fördermodelle auf den Weg gebracht haben. Auch in der Industrie sehen wir steigende Nachfrage, Vorbereitungen zum Einsatz von Wasserstoff laufen auf Hochtouren. Materialentwickler stellen sich die Frage, ob ihre Produkte tolerant gegen Wasserstoffversprödung und für den Einsatz in Wasserstoffanwendungen geeignet sind. Energieversorger identifizieren Möglichkeiten zur Produktion von grünem Wasserstoff sowie zum Transport über bestehende Gasinfrastrukturen. Energieintensive Industrien wiederum planen die Produktion von klimaneutralem Wasserstoff vor Ort und dessen Weiterverwendung in industriellen Prozessen. Öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die sich nur schwer ohne bauliche Maßnahmen elektrifizieren lassen, werden nach und nach auf den Betrieb mit Wasserstoff umgestellt. Auch immer mehr Unternehmen, die bisher kaum Erfahrung oder gar nicht direkt mit Wasserstoff zu tun hatten, zeigen großes Interesse an Möglichkeiten zur Nutzung.

Auf Unternehmen, die auf Wasserstofftechnologie setzen wollen, wartet eine ganze Palette an Sicherheitsanforderungen. Wie hoch ist der Aufwand, um alle Auflagen zu erfüllen?

Kocher:
Aktuell fehlt es weitgehend an regulatorischen Rahmenbedingungen, angefangen von Begriffsbestimmungen über Regelungen zur Einspeisung ins Gasnetz bis hin zu unzureichenden Anreizen für Forschung und Investitionen. Expertinnen und Experten von TÜV SÜD verfügen über langjährige Kompetenz und Erfahrung und unterstützen Klienten und Partner bei allen relevanten Fragen entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Wasserstoff. Elektrolyseure entwickeln sich mit steigender Nachfrage immer mehr von kleinen technischen Demonstrationsanlagen hin zu großen Power- to-Gas-Anlagen. Größere Anlagen bedeuten aber auch eine höhere Komplexität und damit steigende Herausforderungen für alle Beteiligten. Daraus ergeben sich Fragen wie etwa zu Genehmigungsverfahren, der Gewährleistung von Betriebssicherheit, der Zertifizierung von Baugruppen und Komponenten, dem sicheren Umgang von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Wasserstoff sowie zur Klimaneutralität des Energieträgers. Aufgrund der spezifischen Eigenschaften von Wasserstoff und daraus resultierenden potenziellen Risiken müssen mobile und stationäre Speicher- und Transportmöglichkeiten wie Rohrleitungen und Tanks sämtlichen geltenden Sicherheitsstandards entsprechen. Dazu sind Bewertungen der Materialverträglichkeit, Komponententests und regelmäßige Überprüfungen notwendig.

Wenn wir die Energieversorgung in Europa unabhängiger von fossilen Brennstoffen machen wollen, braucht es konkrete Maßnahmen sowie einheitliche Regularien und Standards.

Entscheidend für die Realisierung einer wasserstoffbasierten Industrie sind die Gesamtinfrastruktur, die 24/7-Verfügbarkeit erneuerbarer Energien in den Mengen, wie sie für die Industrie benötigt werden, sowie die länderübergreifende Transportinfrastruktur. Wie ist da Ihre Einschätzung der Lage für Österreich?

Kocher: Auf Basis bestehender Infrastruktur, insbesondere der Gasdrehscheibe Baumgarten, sowie der geografischen und geopolitischen Lage hat Österreich beste Voraussetzungen, um grünen Wasserstoff zu transportieren. Die eingespeisten Mengen an erneuerbaren Gasen und Wasserstoff sollten laufend gesteigert werden. Aus technischer Sicht können aktuell bis zu zehn Prozent Wasserstoff im Gasnetz beigemischt werden. Bestehende Gasendgeräte verarbeiten das Gasgemisch einwandfrei. Gleiches gilt natürlich auch für Anwendungen in der Industrie oder bei der Stromerzeugung. Wenn wir die Energieversorgung in Europa unabhängiger von fossilen Brennstoffen machen wollen, braucht es konkrete Maßnahmen sowie einheitliche Regularien und Standards. Hier gibt es aktuell noch großen Optimierungsbedarf.

Wo soll eigentlich die ganze grüne Energie dafür herkommen? Begibt man sich da nicht wieder in Abhängigkeiten?

Kocher: Das Energiesystem der Zukunft soll aus einem Mix an alternativen Energien, darunter grüner Wasserstoff, bestehen. Es gibt Sektoren, in denen er sehr effizient zum Einsatz kommen kann, aber auch Bereiche, wo andere Technologien wie Batterien, Wärmepumpen oder synthetische Kraftstoffe besser geeignet sind. Auch Exporteure, die Produktionskapazitäten aufbauen, sind auf eine gewisse Nachfragesicherheit angewiesen. Im Laufe der Jahre wird sich ein globaler Markt entwickeln und der Energieimportbedarf Deutschlands auf dem Weg hin zur Klimaneutralität wird stark abnehmen. Abhängigkeit sinkt, wenn es Ausweichmöglichkeiten gibt, Lagerbestände verfügbar werden, Möglichkeiten zum kurzfristigen Energieträgerwechsel bestehen und die Wasserstoffproduktion auch im Inland kurzfristig skalierfähig wird.