Kolumne "Wissenstransfer" : Jetzt aber mal halblang, Industrie 5.0?

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Univ.-Prof. Friedrich Bleicher (links) ist gelernter Maschinenbauer und Vorstand des Instituts für Fertigungstechnik und Photonische Technologien an der TU Wien. Als diplomierter Betriebswirt der Universität Innsbruck und Maschinenbauingenieur kann Hannes Hunschofsky fast 40 Jahre Erfahrung in Führungspositionen bei namhaften Industrieunternehmen im In- und Ausland vorweisen.

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Zunächst bietet sich die Variante unter „Sportsfreunden“ an (übrigens das Wort des Jahres unter den Vertreter:innen der Generation X). So soll es sich bei der Redensart um eine ironische Anspielung auf eine übertriebene Längenangabe handeln, wie sie insbesondere unter Anglern üblich ist und sich auf die geschilderte Größe des Fanges bezieht.

Eine andere, wunderbare Deutung der Redewendung führt uns zurück zur ersten industriellen Revolution, so man der These der Nummerierung von industriellen Revolutionen folgt und wo bei der Revolution Nr. 1 die menschliche Arbeitskraft durch die maschinelle Arbeitsleistung ersetzt wurde.

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Demnach hat die Redewendung ihren Ursprung im Betrieb der Dampfmaschinen, der kohlebefeuerten Dampfkessel. Der Rost für die glühende Kohle ist im Betrieb vollständig mit Kohle belegt. Soll der Kessel weniger Leistung haben, machte man das Feuer „halblang“. Als Personen mit maschinenbaulichem Hintergrund stellt sich für uns freilich nicht mehr die Frage, welche Interpretation den priorisierten Zuschlag bekommt.

Blickt man nun wieder auf die laufende Nummer der industriellen Revolutionen, so empfiehlt es sich vielleicht auch, das Befeuern von Begriffen zu hinterfragen und eventuell auf halbes Feuer zu setzen.

Pareto auf den Kopf gestellt

Das Pareto-Prinzip, auch bekannt als die 80/20-Regel, besagt, dass in vielen Fällen 80 Prozent der Ergebnisse durch 20 Prozent der Ursachen erzeugt werden. Es scheint, dass wir in der Umsetzung der Industrie 4.0-Visionen noch nicht mal den asymptotischen Punkt in der Umsetzungskurve geschafft haben, da brauchen wir auch schon wieder eine neue, vermeintlich bessere Zielsetzung und geben dem einfach die nächste Nummer.

Dies erinnert uns nicht nur an die Anfänge der Microsoft-Produkte, sondern auch an das iPhone von Apple. Jedes Jahr gibt es ein neues iPhone mit einer höheren Zahl. Andere Produkte verwenden „Fancy“-Zusätze wie „Pro“, „Max“ oder „Ultra“. Im Grunde ist es aber immer noch dasselbe: ein makroskopisch rechteckiges Teil, welches uns daran erinnert, dass wir viel zu viel Zeit am Bildschirm verbringen. Wie schön, dass es den 3er BMW seit 1975 gibt und auf das 3.1, 3.2 etc. bisher verzichtet wurde; obgleich man mit den Zusatzahlen, die früher den Hubraum angegeben haben, mittlerweile auch kreativ geworden ist.

Eine beliebte Interpretation, welche die 5. Industrierevolution prägen soll, ist, dass man wieder den Menschen in den Mittelpunkt rückt. Aber wer sagt, dass wir den Menschen in der Vision von Industrie 4.0 vergessen hätten?

Über die Kolumne

In „Wissenstransfer“ reflektieren zwei Masterminds der Produktionsszene an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis, wie aktuelle Aufgaben der Automatisierung mit innovativen Technologien und kreativen Zugängen gelöst werden können. Homebase der beiden ist das österreichisch-deutsche Forschungsprojekt EuProGigant: EuProGigant ist das Leitprojekt für GAIA-X im Produktionsumfeld zum Aufbau eines standortübergreifenden, digital vernetzten Produktionsökosystems.

Schon in Industrie 4.0 sollen intelligente Maschinen oder Roboter den Menschen helfen, schneller und effizienter zu arbeiten, statt sie zu verdrängen. Heute werden zumeist zusätzlich zwei alchemistische Lösungen in den Ring geworfen. Es wird die direkte Kollaboration zwischen Menschen und intelligenten Maschinen bzw. Robotern diskutiert, und wenn das nicht überzeugt, dann muss das aktuelle Digitalisierungstechnologieallheilmittel (40 Buchstaben, schlägt den Donaudampfschifffahrtskapitän mit 29 Buchstaben um Längen) aufgefahren werden, nämlich der Einsatz von Künstlicher Intelligenz.

Auch hier könnte ein geerdeter Praktiker die Frage aufwerfen, wo der konkrete Anwendungsfall zu verorten wäre. Obgleich die Fantasie der KI-Nutzung, abgeleitet von Eigenversuchen mit ChatGPT, hier schon gewisse Vorstellungen eröffnet, sind derzeit Lösungen für die Produktion doch eher noch auf dem Entwicklungsweg.

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Eine Dissertation einer jungen Kollegin beschäftigt sich mit dem Trainieren einer KI anhand von prozessnahen Sensordaten aus Zerspanungsprozessen. Die Rauheitsmessung verhilft der KI zur Funktionalität, die resultierende Fertigungsqualität eines Fräsprozesses in Abhängigkeit von Werkstückwerkstoff, Verschleißzustand, und diesen Prozessdaten zu prädizieren. Prozessparameter können damit kontrolliert in die Höhe geschraubt, die Energieeffizienz verbessert und die Wirtschaftlichkeit gesteigert werden. Diese Welt ist dann eine wunderbare Spielwiese für Technologen, Datenanalysten und Softwareentwickler, um autonome Funktionen in Fertigungsmaschinen zu integrieren. Der Mensch wird sich von der Maschinenbedienung mehr und mehr diesen Aufgaben zuwenden.

Ob wir auf diesem Weg alle Köpfe mitnehmen können und wie dieser Wandel generell gelingt, ist zweifelsfrei eine Herausforderung. Also Sports - freunde, eines ist fix: Die einzige Konstante ist die Beschleunigung der Veränderung! Welche Industrie X.X-Nummer wir dann an manche dieser Entwicklungen anhängen wollen, werden wir auch noch sehen. Nach Douglas Adams würden wir sagen: „42“.