Wissenstransfer : Die „Haut Couture“ der Produktionssysteme

Blicken wir zurück, dann lässt sich feststellen, dass nach dem CIM-Hype, der „Computer-integrierten Fertigung“ Mitte der 80-iger Jahre, 2011 die Industrie 4.0-Euphorie ausgebrochen ist – also rund 25 Jahre später. Die neue Begeisterung wurde getragen von der Nutzung der Möglichkeiten, die das Internet eröffnete. Eine Dekade später werden abermals neue Fertigungskonzepte hinterfragt, es wäre also wieder Zeit, eine neue Perspektive in die Produktion zu bringen. Um sich hierfür zu orientieren, könnte man versuchen, aktuelle Trends zu identifizieren. Dies ist derzeit einfach und schwierig zugleich: der Klimawandel, kleiner werdende Losgrößen durch die Individualisierung der Produkte, die Elektrifizierung der Mobilität, aber auch die neue Bewertung der globalen Lieferketten, die COVID-19-Pandemie und aktuell die Ukraine-Krise mit seinen Auswirkungen auf verschiedene Märkte wie die Energieversorgung. Zweifelsfrei ist der Klimawandel und die daraus resultierende Herausforderung der De-Fossilisierung der Produktion eine unabdingbare Notwendigkeit und bringt neue technologische Perspektiven. Wasserstoff als industrieller Energieträger, dessen Herstellung und die technische Umsetzung in den Wertschöpfungsprozessen bilden einen wesentlichen Veränderungsschwerpunkt.

Ehemals war die Antwort auf die CIM-Philosophien, die hochautomatisierten Fertigungssysteme durch schlanke Konzepte zu Fertigungszellen abzulösen. Diese sollten modular, umrüstbar, wandlungsfähig und rekonfigurierbar sein. Das große EU-Forschungsprojekt HIPARMS, „Highly productive and reconfigurable manufacturing systems”, behandelte diese Forschungsthematik und markiert den Zeitpunkt, in dem man diese Konzepte einst verfolgte: 1999 bis 2001. Es wird also Zeit, wieder die modulare Produktion, adaptive Maschinen- und Anlagenkonzepte aufzuwerfen. Neue technologische Voraussetzungen der Automatisierungssysteme und das Zusammenspiel von Hard- und Software am Shopfloor bilden die Basis, um einstmals gedachte Konzepte neu zu durchdringen.

Ein Forschungsprojekt am Karlsruher Institut für Technologie interpretiert diese ehemaligen Ansätze neu, setzt dafür umfassend Roboter ein und verwendet Bodenindexierungen, um die Roboter sehr flexibel und anwendungsorientiert anzuordnen. Roboter verrichten Manipulationsaufgaben, montieren und fertigen. Dabei können Roboter auch interagieren; zwei Arme können sich gegenseitig stützen und eine Bearbeitungsspindel präziser positionieren. Die Projektbezeichnung „Wertstromkinematiken“ drückt das verfolgte Konzept sehr trefflich aus. Kein Zweifel, Produktionsprozesse müssen künftig einer Veränderung hinsichtlich des Energie- und Ressourceneinsatzes unterzogen werden. Die Modularisierung der Produktion ermöglicht den zügigen Aufbau neuer Produktionskapazitäten und -anlagen, die sich schnell an die lokalen Erfordernisse anpassen lassen.

In der Pilotfabrik Industrie 4.0 der TU Wien wurde vom Institut für Fertigungstechnik und Photonische Technologien (IFT) ein für modulare Fertigungssysteme taugliches optisches Arbeitsraum-Überwachungssystem installiert. Fertigungsanlagen können flexibel umgruppiert und die Schutzkonzepte rasch nachgezogen werden. Die Einbindung in den Materialfluss, die Versorgung mit Rohteilen und der Abtransport von fertig bearbeiteten Werkstücken erfolgen in der Installation über automatische Flurförderfahrzeuge. Die Zellensteuerung orchestriert die gesamten Abläufe. Der Betrieb solcher Systeme erfordert erweiterte Kompetenzen der Maschinenführer, wie beispielsweise für den Betrieb und die Instandhaltung der komplexen, automatisierten Maschinen und Softwaresysteme. Die ehemals erarbeiteten Konzepte aus dem Projekt HIPARMS zeigen, dass die Systemflexibilität durch Schnittstellen in Hard- und Software gewährleistet wird. Ein einfaches Beispiel wäre in Bearbeitungszentren die Möglichkeit zum Wechsel der Hauptspindel mit unterschiedlichen Drehmoment- und Drehzahl-Charakteristiken für die Stahl- oder Leichtmetallbearbeitung. Die Modularität und den damit verbundenen funktionellen Vorteil erkauft man sich also durch systemischen Mehraufwand. Die Konzeption von modularen Fertigungssystemen muss nach den Anwendungsszenarien – und der Wirtschaftlichkeit – angelegt werden. Bisher haben sich die Kosten für die Modularität noch nicht nachhaltig darstellen lassen. Der umfassende Einsatz integrierter CAD-CAM-Systeme eröffnet allerdings die Anwendung von komplexen Fertigungsprozessen.

Die Hybridfertigung, eine sequentielle Kombination von additiven und subtraktiven Fertigungsprozessen, basiert darauf und kann dergestalt neue Wertschöpfungsketten eröffnen, in denen zusätzlich auch Themen wie die Reparatur oder „Re-Manufacturing“- bzw. „Up-Cycling“-Prozesse umsetzbar sind. Wenn wir die Ressourceneffizienz in der Kreislaufwirtschaft wirklich realisieren wollen, wären damit neue Rahmenbedingungen auch für modulare Fertigungssysteme gegeben. Die Perspektiven sind herausfordernd, jedoch vielversprechend, die Haut-Couture der Fertigung in Form von modularen, ressourcen-schonenden Fertigungskonzepten neu zu denken. Die technologischen Errungenschaften der letzten 20 Jahre bieten hierfür eine vielversprechende Grundlage. Apropos vielversprechend: Den Kleiderschrank auszuräumen, zahlt sich nicht aus; Geduld, Geduld, und der Schnürlsamt-Anzug geht eines Tages wieder als schick durch.