Wertschöpfungskette : „Europa muss auf dem Halbleitermarkt jetzt aufholen“
Halbleiter sind das Herzstück einer modernen Industriegesellschaft und für Alltagsprodukte ebenso wichtig wie für alle industriellen Prozesse. Eine gesicherte Versorgung mit den jeweils benötigten Chips ist daher überlebenswichtig – auch für den Maschinen- und Anlagenbau. Zugleich bietet der Wachstumsmarkt Halbleiter große Geschäftschancen für die Ausrüsterindustrie. Jede neue Chipfabrik muss mit High-Tech-Produktionsanlagen ausgerüstet werden. Das Ziel der EU, die Abhängigkeiten insbesondere von Asien in der Halbleiterfertigung und -lieferung zu verringern, ist daher konsequent und richtig. „Europa muss in der Herstellung von Halbleitern jetzt aufholen und dazu gezielt in den Aufbau einer passenden Wertschöpfungskette investieren“, fordert Hartmut Rauen, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des VDMA.
„Wir brauchen auf diesem Feld langfristig wettbewerbsfähige und resiliente europäische Strukturen. Und diese entstehen nur, wenn es gelingt, die Wertschöpfungsketten der Halbleiterindustrie mit innovationsstarken Maschinenbauunternehmen zu stützen.“ Dabei geht es um den Halbleiter-Massenmarkt, „Priorität haben Investitionen in die Fertigung von größeren Chip-Strukturen von mehr als 28 Nanometern, die die Industrie zum Beispiel für Sensoren oder Leistungshalbleiter benötigt“, erläutert Rauen.
Im Auftrag des VDMA hat das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA die Entwicklung des europäischen Halbleitermarkts bis 2030 untersucht und Handlungsempfehlungen sowohl für Unternehmen als auch für die Politik abgeleitet. „Nur durch eine gezielte Förderung von Forschung, Entwicklung und Produktion kann sichergestellt werden, dass der Maschinen- und Anlagenbau den Herausforderungen der Zukunft gewachsen ist und seine Position als eine der tragenden Säulen der europäischen Wirtschaft weiter festigt“, resümiert Dr. Udo Gommel, Autor der Studie „Die Chip-Knappheit – Herausforderungen und Chancen für den Maschinen- und Anlagenbau in Europa“. Auch eine bessere Ausbildung und Förderung von Fachkräften, eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Hochschulen sowie neue internationale Partnerschaften wären dringend geboten. „Europa befindet sich hier in einem Marathon. Beste Rahmenbedingungen und die Herausbildung von hochqualifiziertem Personal sind daher wichtigste Maximen“, ergänzt Hartmut Rauen.
Defizite vor allem im Bereich „Advanced Packaging“
Denn aktuell sind nur knapp 400 Unternehmen in Europa direkt oder indirekt mit der Fertigung von Halbleitern beschäftigt, davon rund 50 aus dem Maschinen- und Anlagenbau sowie knapp 130 Komponentenhersteller. Damit können längst nicht alle Stufen der Chip-Wertschöpfungskette ausreichend abgebildet werden. Insbesondere im Bereich „Advanced Packaging“, also der Kombination verschiedener Prozessschritte der Halbleiterherstellung in einem System, hat Europa einen großen Nachholbedarf. „Einseitige Abhängigkeiten, wie sie in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, müssen daher aufgebrochen und wechselseitig gestaltet werden. In diesem Zusammenhang gilt es, zunächst die Stärken der EU-Staaten in der Halbleiterwertschöpfungskette in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Chip-Design, sowie Maschinen- und Anlagenbau und Komponentenherstellung wahrzunehmen und gezielt zu stärken“, heißt es in der Studie.
Unternehmen müssen sich auf wiederkehrende Knappheiten einstellen
Als Kunde von Chipherstellern tun sich die zumeist mittelständischen Maschinen- und Anlagenbaufirmen ebenfalls schwer auf dem Weltmarkt. Denn die globalen Lieferketten für Halbleiter sind intransparent und die Beschaffung muss häufig über den grauen Markt zu überhöhten Preisen erfolgen. Eine bessere globale Erfassung der Verfügbarkeiten von Chips wäre daher dringend nötig, um künstliche Knappheiten schneller zu identifizieren. „Ein erster Ansatz dazu ist die intensive Nutzung des von der Europäischen Union etablierten Halbleiter-Warnsystems, welches allen Akteuren in Bezug auf Halbleiter die Möglichkeit bietet, bereits bei kleinsten Anzeichen von Mängeln oder Störungen in der Lieferkette zu reagieren“, heißt es in der Studie.
Aber auch die Unternehmen selbst tun gut daran, sich auf wiederkehrende Chip-Knappheiten einzustellen. Ganz oben auf der Agenda sollte daher der Vorsatz stehen, mehr Unabhängigkeit in der Beschaffung zu erreichen, etwa durch Qualifizierung von Zweit- und Drittlieferanten. Just-in-time-Lieferungen können vermieden oder zumindest ergänzt werden durch den Aufbau von Sicherheitsbeständen. Ziel muss es darüber hinaus sein, eine bessere Transparenz über die gesamte eigene Lieferkette zu erlangen und neue, attraktive Arbeitsplätze für Spezialisten zu schaffen, um Innovationskapazitäten besser nutzen zu können.