Standortsicherung : Streben statt kleben!

Fraunhofer Austria

Sebastian Schlund ist Stiftungsprofessor für Industrie 4.0 an der TU Wien sowie Leiter des Centers „Nachhaltige Produktion und Logistik“ bei der Fraunhofer Austria. Er vertritt als Präsident der ÖWGP die Interessen der wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik in Österreich.

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Die großen Industrieverbände schlagen Alarm, es fehlen in Technik und Informatik derzeit 40.000 Arbeitskräfte. Den Wertschöpfungsverlust für 2023 beziffert eine Studie des Industriewissenschaftlichen Institut mit 6,4 Mrd. Euro. In der Presseaussendung heißt es sogar: „Die Zukunft sieht noch düsterer aus“. Teilen Sie diese pessimistische Einschätzung, was die Auswirkungen des Fachkräftemangels betrifft?

Sebastian Schlund: Die Zukunft ist so, wie wir sie gestalten. Wenn wir nichts tun, wenn wir so weitermachen wie bisher, dann wird es auch so kommen wie befürchtet. Die Zahlen zur Demographie kennen wir, wir wissen wie viele Menschen in den letzten Jahren geboren wurden und wie viele Menschen aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Ich möchte eine aus Sicht der Industrie interessante Zahl ergänzen: Insgesamt werden in den kommenden 10 Jahren rund 500.000 Personen am österreichischen Arbeitsmarkt fehlen – das sind ziemlich exakt so viele Menschen wie heute in der gesamten sachverarbeitenden Industrie arbeiten. Daher verstehe ich die pessimistische Einschätzung, wobei ich glaube, dass mit dieser Art der drastischen Formulierung auch die Dringlichkeit der Problematik vor Augen geführt werden und sozusagen Leidensdruck erzeugt werden soll.

Einfach mehr zahlen

Die demographische Entwicklung ist der Hauptgrund für die angespannte Lage am Arbeitsmarkt, die lässt sich mittelfristig auch nicht ändern. Kommen wir zu den möglichen Lösungsansätzen: Welche Rolle spielen dabei Erwerbsquote und die Teilzeitarbeit?

Schlund: Es gibt mehrere Stellschrauben, an denen wir drehen können, um das Arbeitskräftereservoir zu erhöhen. Die Teilzeitquote senken ist eine davon, aber das entspricht nicht dem gesellschaftlichen Trend. Qualifizierte Arbeitnehmer können sich zunehmend die Jobs auch aussuchen, bei der Entscheidung für einen Arbeitgeber spielen mehr Flexibilität und mehr Freizeit eine immer größere Rolle. Für die Unternehmen ist es besser, einen Mitarbeiter zumindest für Teilzeitarbeit zu gewinnen, als eine Stelle gar nicht besetzen zu können. Bei der Erhöhung der Erwerbsquote spielen Frauen eine entscheidende Rolle. Natürlich sind insgesamt gesehen Frauen nicht alleine die Lösung des Fachkräftemangels – aber in der Industrie mit dem geringen Frauenanteil in gewisser Weise schon. Ein weiterer Faktor, den die Arbeitgeber nicht so gerne hören, ist die Anpassung von Löhnen und Gehälter: Den Leuten einfach mehr zahlen! Das hat natürlich negative Effekte auf der Produktivitätsseite, gehört aber dazu, um Arbeitsplätze attraktiver zu machen – und das Arbeiten in jede Richtung attraktiver zu machen ist der eigentliche Schlüssel. Natürlich muss auch gesellschaftlich, politisch und auf der Innovationsseite einiges passieren.

Woran denken Sie, wenn sie politische und gesellschaftliche Themen ansprechen?

Schlund: Wir müssen über die Erhöhung des realen Pensionseintrittsalters sprechen – für die MitarbeiterInnen, die das wollen – und darüber, wie wir qualifizierte Zuwanderung nach Österreich bekommen. Außerdem sollten wir uns klar werden, dass wir die Gefahr einer Deindustrialisierung abwenden müssen. Wenn Unternehmen Aufträge nicht mehr bedienen können, müssen Produktionen verlagert werden, und mit jeder Produktions-Schließung wandern auch angrenzende Jobs ab.

Nicht von heute auf morgen

Ein weiterer Lösungsansatz ist eine Qualifizierungsoffensive. Dazu lässt sich FMTI-Obmann Christian Knill zitieren mit den Worten „Die Prüfungsergebnisse im Fach Mechanik an der TU Wien waren in der Vergangenheit dermaßen schlecht, dass der FMTI sich entschlossen hat, die Finanzierung des Tutorenwesens in diesem Fach zu übernehmen.“ Was sagen Sie zu dieser Herangehensweise?

Schlund: Konkret zu diesem Beispiel möchte ich sagen, dass der Maschinenbau ein sehr attraktives, aber auch anspruchsvolles Studium ist, und die Mechanik für viele eines der schwersten Fächer. Auch dank der Hilfe der WKO, aber vor allem auch durch das große Engagement der Lehrenden, haben sich die Ergebnisse verbessert. Es ist gut und sinnvoll, wenn die Industrie Studiengänge unterstützt, die die Wirtschaft braucht. Noch wichtiger aber ist, die Attraktivität und Relevanz dieser Studiengänge in den Mittelpunkt zu rücken: Streben statt kleben! Wir müssen den jungen Menschen klar machen, dass sie mit einem technischen Studium, egal ob das jetzt Maschinenbau, Elektrotechnik oder Informatik ist, langfristig mehr für das Klima tun können als wenn sie eine Straße blockieren.

Welche Rolle spielt die Automatisierung? Kann eine Automatisierungsoffensive der Industrie helfen, fehlende Fachkräfte auszugleichen und den Produktionsstandort Österreich zu sichern?

Schlund: Selbstverständlich. Nur geht aber nicht von heute auf morgen. Das braucht einen Zeithorizont von 5 bis 10 Jahren, wenn wir die Produktionsstätten soweit automatisieren und digitalisieren, dass wir damit den Fachkräftemangel tatsächlich ausgleichen können.

Der größere Hebel

Wo müsste man dafür ansetzen? Österreich ist ein KMU-dominiertes Land, welche Technologien fehlen in den Produktionswerken am meisten?

Schlund: Das sehe ich ergebnisoffen. Der Kernpunkt muss die Produktivitätssteigerung sein, nicht der Einsatz von einzelnen Technologien. Das ist außerdem von der Unternehmensgröße und der jeweiligen Branche abhängig. Und so sinnvoll es ist, KMUs zu fördern: Ich halte es für besser, die Unternehmenszielgruppe auf Mid Caps zu erweitern. Als solche definiere ich Unternehmen mit bis zu 3.000 MitarbeiterInnen. Hier ist der Hebel größer, man bekommt Zugang zu noch mehr innovativen Lösungen. Außerdem entsteht dadurch eine Vorbildwirkung für KMUs, die sich häufig nicht an Großkonzernen orientieren, sondern an den Marktteilnehmern, die etwas größer sind als sie selber.

Trotzdem nochmal die Frage nach den Technologien: Wo ist hier für sie die meiste Luft nach oben? Wo sehen sie in Zukunft das größte Potenzial?

Schlund: Robotik nach wie vor ein großes Thema, sowohl kollaborative als auch zunehmend mobile Robotik. Ein weiterer Punkt mit Aufholbedarf ist die Digitalisierung und Automatisierung von Workflows. Künstliche Intelligenz wird immer umsetzungsnäher. Ich denke dabei an Spracherkennung oder an automatische Dokumentation und Codegenerierung. Lösungen wie ChatGPT sind auch für den Einsatz in der Industrie vielversprechend, doch wird es sicher noch einmal 3-5 Jahren dauern, bis Anwendungen spürbar in Unternehmen durchschlagen. Was jetzt schon umsetzbar ist, das ist Machine Vision, Bilderkennung mit einfach zugänglichen Hard- und Softwarelösungen. Auf lange Sicht ist KI eine Universaltechnologie zur Produktivitätssteigerung!

Soll sich Österreich dabei mehr auf Anwendungsfälle konzentrieren, oder sollten wir versuchen, uns in der Grundlagenforschung und Entwicklung stärker positionieren?

Schlund: Manche Bereiche sind einfach zu aufwändig, um als verhältnismäßig kleine Nation komplette Grundlagenentwicklungsumfänge erfolgreich zu stemmen. Das geht nur gemeinsam, beispielsweise in enger Abstimmung auf europäischer Ebene. Was ich jedoch kommen sehe, das ist dass es unterschiedliche KI-Anwendungen für verschiedene Weltregionen geben wird. Es wird europäische KI-Modelle geben, die sich von asiatischen oder amerikanischen unterscheiden werden. Bei aller Konzentration auf die richtigen Anwendungen halte ich es für wichtig, wenn wir auf der Entwicklungsseite da zumindest am Ball bleiben.

Grundsätzlich für Offenheit

In der klassischen Automatisierung gibt es derzeit den Trend weg von proprietären Lösungen hin zu offenen Standards, zu Plattformen, weg von der Hardware hin zu Software. Sehen Sie das als eine Entwicklung, die tatsächliche Veränderungen oder gar Verbesserungen für die Industrie bringen kann, oder ist das bloß ein Richtungswechsel bei den SPS-Lieferanten?

Schlund: Da bin ich ganz Wissenschaftler, und somit bei der Frage auch etwas befangen. Mir sind offene Zugänge sehr wichtig. Forschungsthemen leben vom Austausch und heben dann ab, wenn ein offenes Ökosystem, ein Austausch zwischen mehreren Akteuren entsteht. Dafür gibt es viele gute Beispiele, auch auf Hard- und Software-Ebene. Insofern bin ich grundsätzlich für den Open-Source-Ansatz, für die Offenheit gegenüber anderen.