Wissenstransfer : Die kleine Raupe Nimmersatt oder neue Besen kehren gut
Steht die diskrete Fertigung in den meisten Wertschöpfungsketten an deren Ende, so bildet die Prozessindustrie mit ihren zumeist kontinuierlich gefahrenen Prozessen deren Anfang. Die Prozessindustrie verarbeitet Stoffe und Materialien in chemischen, physikalischen, biologischen oder anderen technischen Prozessen und Verfahren. Es werden die Wertstoffe, Werkstoffe oder vorbereitete Rohteile und auch die notwendigen Fertigungshilfsstoffe hergestellt. Die Branchen Chemie, Petrochemie, Gasverarbeitung, Pharmazie, Lebensmittel-, Zucker-, Zellstoff-, Papier-, Glas-, Stahl- und Zementherstellung und die Zulieferer dieser Industrien werden ihr zugeordnet; zumeist charakterisiert durch Hochtemperaturprozesse, also sehr energieintensive Herstellverfahren. Daher stehen diese Branchen im Zentrum der Betrachtungen und der Kritik hinsichtlich der Emission von Treibhausgasen. „Walle, walle …“ passiert leider nicht durch magische Kräfte, sondern unverändert durch: „Power“. Letztere finden diese Industrien in zumeist fossilen Energieträgern. Und gerade hier liegt das Emissionsproblem.
In vielen Diskussionen spricht man unreflektiert von der Neuausrichtung dieser Industrien in Zusammenhang mit der Dekarbonisierung unserer Gesellschaft. Aber eigentlich sollte dies nicht unsere Zielsetzung sein. Die organische Chemie ist vielmehr die Zukunftsperspektive. Die Natur zeigt dies am Beispiel des Baumes vor: Der Baum verwertet CO2 mit Sonnenlicht, generiert Sauerstoff und organische Stoffe, bindet also den Kohlenstoff im Holz. Stirbt der Baum, verwerten Bakterien und Insekten das Holz und verzehren das organische Material, indem sie Sauerstoff für deren Stoffwechsel konsumieren. Solange dieser Prozess „neutral“ abläuft – und dies tut er –, bleibt die Balance gewahrt. Es sei angemerkt, dass man insbesondere aus Birkenreisig praktische Besen binden kann. Es muss also nicht alles Holz den Bakterien zum Fraß vorgeworfen werden.
Übertragen auf die Prozessindustrie, sprechen wir daher besser von der Defossilisierung der Gesellschaft. Wir müssen also den Kohlenstoff in den Kreislauf bekommen, hierfür muss selbiger jedoch „eingefangen“ werden – klingt in „Neudeutsch“ mit Carbon- Capture gleich viel wissenschaftlicher. Technologisch bedeutet dies, dass wir aus dem CO2 der Prozesse zusammen mit Wasserstoff aus der Luft oder aus der Wasserstoff-Elektrolyse synthetisches Methan CH4 herstellen. Hierfür müssen wir konsequenterweise elektrische Energie aus nachhaltiger Produktion nutzen, also Solarenergie, Wind- oder Wasserkraft. Das Methan kann erneut in der energieintensiven Prozessindustrie Anwendung finden oder durch einen Pyrolyse- Prozess in Wasserstoff und Kohlenstoff zerlegt werden. Letzteres wird für die Bauindustrie diskutiert und der Kohlenstoff als Zuschlagstoff für Baumaterial angedacht. Der Wasserstoff könnte als Energieträger wieder für die Prozesse eingesetzt werden – beispielsweise für die Zementindustrie. Würde man das CO2 aus der Atmosphäre entnehmen, könnte der Klimawandel bedingt durch höhere CO2-Konzentrationen sogar umgekehrt werden.
„DIE BOTSCHAFT HÖR ICH WOHL, ALLEIN MIR FEHLT DER GLAUBE.“
Technologisch ist dies eine Frage der großindustriellen Umsetzung der Prozesse, es ist dies auch eine Frage des Wirkungsgrades und damit der Wirtschaftlichkeit. Hier ist noch umfassender Forschungsbedarf gegeben. Wir sollten uns gesellschaftlich auch in dieser Frage zu einer globalen Denkweise durchringen. Einerseits haben wir noch enormes Potenzial, um Primärenergie einzusparen, andererseits müssen wir die Energiewende wohl über den gesamten Kreislauf denken und mit Regionen mit hohem Energieanfall kooperieren. Interessant ist dabei auch der konsequent gedachte Industrialisierungsansatz, wonach Kunststoffe eigentlich eine gebundene Form von Kohlenstoff darstellen. Kunststoffe stehen heute in unserer Gesellschaft unter einer sehr kritischen Betrachtung. Spätestens seitdem man weiß, dass heute – in Masse gemessen – mehr Kunststoffe in den Weltmeeren schwimmen als Fische, wenden wir uns Zauberlehrlinge von unserem Werk mit Kopfschütteln ab.
Wenn wir also den industriellen Besen wieder in die Ecke bringen wollen, müssen wir den obigen Ansatz wohl zu Ende denken und vor allem in die Umsetzung kommen. Gerade für den Kunststoff gilt der obige Kohlenstoffkreislaufzugang – allerdings müssen wir den Kunststoff mehr als Wertstoff erkennen und nicht einfach wegwerfen. Es wäre eine thermische Verwertung und die Zirkulation des Kohlenstoffes naheliegend. Wenn wir wieder Johann Wolfgang von Goethe für eine Empfehlung bitten dürften:
„ES IST NICHT GENUG, ZU WISSEN, MAN MUSS AUCH ANWENDEN; ES IST NICHT GENUG, ZU WOLLEN, MAN MUSS AUCH TUN.“
Über die Kolumne
In „Wissenstransfer“ reflektieren zwei Masterminds der Produktionsszene an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis, wie aktuelle Aufgaben der Automatisierung mit innovativen Technologien und kreativen Zugängen gelöst werden können. Homebase der beiden ist das österreichisch-deutsche Forschungsprojekt EuProGigant: EuProGigant ist das Leitprojekt für GAIA-X im Produktionsumfeld zum Aufbau eines standortübergreifenden, digital vernetzten Produktionsökosystems.