Interview: Karl Grün : Befeuert China mit Technologiestandards seine Expansionspolitik?
Als Schlachtfeld bezeichnet die EU-Handelskammer Chinas Vormarsch im Bereich der technischen Normen. Es sei klar, dass der „China Standards 2035“-Plan ein Wettlauf um wirtschaftliche Dominanz geworden sei. Worin unterscheidet sich die Normungsstrategie Chinas von der des dominanten Westens?
Karl Grün: Standardisierung ist angewandte Wirtschaftspolitik, das haben die Chinesen sehr klar erkannt. Sie haben sich auch von anderen Ländern Anleihen genommen. Wir werden nicht müde zu betonen, dass die Standardisierung ein taugliches Instrument ist, um Wirtschaftspolitik ins Leben zu bringen. Die europäische Standardisierung hat dazu beigetragen, den europäischen Binnenmarkt zu vertiefen. Nicht umsonst werden Standards manchmal als das „Geheimnis des europäischen Binnenmarkts“ bezeichnet. Es geht u. a. darum, dass europäische Standards genutzt werden, um den freien Warenverkehr zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und darüber hinaus (Anm.: ETFA-Länder Island, Liechtenstein, Norwegen und Schweiz) zu fördern. Deshalb sollten diese Länder auch unterstützt werden, gemeinsame Standards zu beschließen und weniger nationale Lösungen. Bei uns ist das schon länger der Fall: In Österreich gibt es im Gesamtnormenwerk nur noch sieben Prozent, die rein österreichischen Ursprungs sind.
China hat in puncto Standardisierung eine ganz klare Strategie. Sie setzen zunehmend auf die Einflussnahme, Teilnahme und Übernahme von Führung bei der Entwicklung von internationalen Standards im Rahmen der ISO, aber auch bei der ITU im Bereich der Telekommunikation. Das ist legitim. Andere Länder und Regionen machen dasselbe, wie das am Beispiel der neuen europäischen Normungsstrategie zu sehen ist. Die USA verfolgen eine ähnliche Strategie. Insofern kann man China hier nichts vorwerfen.
Was China unterscheidet, ist die sogenannte „One Belt, One Road“-Initiative, die genutzt wird, die eigenen Vorstellungen voranzutreiben. Die neue Seidenstraße erstreckt sich ja bis in einige europäische Länder. Und entlang dieser Seidenstraße werden Absichtserklärungen abgeschlossen, wo sinngemäß steht, dass wenn ein Land keine eigenen Standards hat, das Land in Erwägung ziehen soll, chinesische Standards anzuwenden. Das hat einen klaren Grund: Wenn Güter oder Dienstleistungen von China exportiert werden, sollen dieselben technischen Voraussetzungen für die chinesischen Exporteure vorzufinden sein. Es geht also um eine Brückenfunktion für China in den Rest der Welt. Das ist legitim und es ist zu begrüßen, dass sich China nicht abschottet und sich innerhalb des offenen und transparenten Systems der internationalen Normen einbringt.
Bei dem Projekt der neuen Seidenstraße handelt es sich vor allem um afrikanische Länder, die im Interesse Chinas stehen, aber auch südosteuropäische Länder, wie zum Beispiel Serbien. Das konnte man ja auch im Zuge der Pandemie beobachten, dass China hier sehr stark unterstützt hat. Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Grün: Impfstoffe sind einem anderen System unterworfen als den internationalen Standards, da geht es um Arzneimittelzulassungen. Grundlegend geht es um Produkte aus dem klassischen Industriebereich, um Maschinen und Baustoffe – das sind die Kernthemen. In den Innovationsbereichen wie Blockchain oder Gesichtserkennung wird hier seitens Chinas sehr viel getan. Etliche Themen werden von China sukzessive in die internationale Standardisierung eingebracht – gerade im Maschinenanlagenbau. Wir reden hier über Standards im Produkt- und Dienstleistungsbereich, nicht über die Bereiche von Arbeitnehmer- oder Umweltschutz, die unterliegen anderen Regulierungssystemen.
Sie sagen, es sei legitim, wenn sich China auf offene und transparente Weise einbringt. Wie kann man sich die Entscheidungswege der Standardisierungsinstitutionen vorstellen – ist das ähnlich wie bei der UNO, wo im Sicherheitsrat die großen Nationen ein Vetorecht haben?
Grün: Bei der internationalen Standardisierung ist es so, dass China zum Beispiel einen Antrag auf Entwicklung von Standards im Bereich von Lithium stellt – das ist ja ein sehr kritischer Rohstoff, der in der Halbleiterproduktion eingesetzt wird. Ein solcher Antrag wird den nationalen Mitgliedern der ISO vorgelegt, derzeit die Normungsinstitute von 165 Ländern. Diese Länder haben das Recht, über den Antrag abzustimmen. Natürlich wird das Thema im Vorfeld mit den Stakeholdern diskutiert. Dabei wird analysiert, ob der Vorschlag eine globale Relevanz hat oder nicht.
Das klingt an sich sehr offen und transparent, es ist aber so, dass wenn ein Land in einem Bereich die Führung übernommen hat, es damit ganz andere Steuerungsmechanismen hat. Man kann also durchaus die Richtung vorgeben. Das hat China als ein strategisches Instrument seiner Wirtschaftspolitik erkannt und setzt das sehr gezielt ein. Das passiert dann mit den entsprechenden Personalressourcen und dadurch werden die anderen Länder unter Zugzwang gestellt.
Hinsichtlich der Abstimmungen: Es gibt qualifizierte Mehrheiten, die es zu erreichen gilt. 75 Prozent der Länder, die mitgestalten, müssen für die Annahme eines Standards stimmen. Was man auch sieht, ist, dass von einzelnen Ländern Lobbying betrieben wird. Für Europa – und das wird durch die neue europäische Normungsstrategie unterstrichen – ist wichtig, dass sich alle Mitgliedsstaaten dessen bewusst sind, was die Bedürfnisse der europäischen Wirtschaft sind. Natürlich wird einzeln abgestimmt, im Hintergrund stehen aber immer die Interessen Europas.
Es geht hier um Werte und die verschiedenen Regionen der Welt unterscheiden sich durch verschiedene Wertekataloge.
Wenn Sie das Lobbying ansprechen: Macht China da etwas anders als die anderen Staaten?
Grün: China hat erkannt, dass man in einer internationalen Umgebung auf Kooperation setzen muss. Das macht China sehr erfolgreich – Gleichgesinnte zu finden, die man mit Sachargumenten überzeugt. Europa hat hier eine gewisse Tradition der Kooperationen, aber wir sind vergleichsweise zurückhaltender. Wenn es um die internationalen Gremien geht, sieht man das an der Normungsstrategie. Die EU-Kommission hat klar gesagt, dass sich die Normungsstrategie nicht gegen die USA oder China richtet. Gleichzeitig müssen wir darauf schauen, ob Einfluss von außerhalb Europas genommen wird. Es gibt einige Unternehmen, die in Europa ansässig sind, aber im chinesischen Eigentum stehen. Inwieweit hier eine ungebührliche Einflussnahme stattfindet, gilt es zu prüfen und bei den Abstimmungen zu berücksichtigen.
Für Stirnrunzeln im Westen sorgte der Vorschlag des Netzausrüsters Huawei für ein neues Internetprotokoll, das im Zentrum der 5G-Sicherheitsdebatte steht. China wolle damit sein Modell des staatlich kontrollierten Netzes inklusive Massenüberwachung und Social-Scoring-System salonfähig machen, heißt es von Seiten der Kritiker. Jetzt ist ja China keine liberale Demokratie, sondern ein autokratischer Staat. Kann ein politisches System über ein technisches Normungssystem eingeführt werden?
Grün: Es geht hier um Werte und die verschiedenen Regionen der Welt unterscheiden sich durch verschiedene Wertekataloge. Sie haben das Social-Scoring-System erwähnt, das in China betrieben wird. Da gibt es Standards, die zur Gesichtserkennung dienen – wie aber dann die Daten, die dabei entstehen, genutzt werden, ist nicht Thema der Standardisierung, das ist ein Thema, das jeder Staat selbst entscheiden muss.
Zurück zur neuen Normungsstrategie. Sie sagen, sie richtet sich nicht gegen China und die USA. EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton erklärte immerhin, dass es um die technologische Souveränität geht und das Verringern von Abhängigkeiten ...
Grün: Man kann jedenfalls feststellen: Es ist ein Erstarken Europas. Europa hat klar gesagt, dass man eine Führungsrolle übernehmen will. Wenn hier mehrere Regionen und Länder das für sich einfordern, geht es aber natürlich um einen Wettstreit. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Wahrnehmungen mannigfaltig sind.
Denken Sie nicht, dass sich der Handelskonflikt zwischen den globalen Mächten jetzt auch auf die Ebene der Standardisierungen erweitert hat?
Grün: Ich sehe, dass es einen Wettkampf zwischen den besten Köpfen gibt. Es geht um die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, aber auch um einen Kampf um internationale Standardisierungen, der jetzt ausgefochten wird. Es geht darum, mit Sachargumenten zu überzeugen. Ich sehe die Situation gemäßigt, es kann aber natürlich eskalieren, keine Frage. Gleichzeitig muss man sich überlegen, ob man aus nationalen Interessen die Vorschläge der anderen konsequent ablehnt. Das kann nämlich dazu führen, dass sich China von der internationalen Standardisierung verabschiedet und wieder eigene Standards macht, wo dann Exporteure aus Europa vor dem Problem stehen, dass sie sich den chinesischen Regeln anpassen müssen. Bei aller Anerkennung der Emotionen, die momentan vorherrschen, plädiere ich dafür, einen kühlen Kopf zu bewahren. Man sollte lieber daran arbeiten, dass der internationale Dialog weiter vertieft und ausgebaut wird. Es ist jedenfalls ein Weckruf für die europäischen Unternehmen, sich verstärkt an der Entwicklung der internationalen Standards zu beteiligen. Der ROI ist ein positiver, man sollte also das Spielfeld nicht den anderen überlassen. Im Frühsommer wird es dazu bei Austrian Standards auch einen groß angelegten Austausch geben, bei dem wichtige Stakeholder zusammenkommen werden, um den Beitrag Österreichs zur Standardisierungsstrategie zu besprechen.
Über Austrian Standards
Austrian Standards ist die österreichische Organisation für Standardisierung und Innovation. Gemeinsam mit europäischen und internationalen Standardisierungspartnern (z. B. ISO, CEN und ETSI) vernetzt Austrian Standards themenbezogen Akteure aus Wirtschaft, Forschung, Verwaltung und NGOs.