Interview: Lars Oberwinter : Den digitalen Zwilling gibt es nicht
1,4 Milliarden Euro für Sanierung
Das Wiener AKH wird bis 2030 saniert und umgebaut. Beim Milliardenprojekt wird Building Information Modeling (BIM) eingesetzt, mit dem das altwürdige AKH ins digitale Zeitalter geholt werden soll. 900.000 m2 Grundfläche und 25.000 Räume – das sind nur zwei der vielen schwindelerregenden Zahlen, die das Ausmaß des Projektes verdeutlichen.
Plandata gehört zu den drei Unternehmen, die das AKH in ein digitales System überführt haben. In den vergangenen fünf Jahren wurde mit der Migration des Bestandes des AKH in ein Digitales Informationsmanagement (DIM) der Grundstein für die Digitalisierungsoffensive gelegt. Lars Oberwinter schildert im AUTlook-Interview seine Erfahrungen mit dem Mammutprojekt und erklärt, was die Industrie von der Baubranche in Sachen Digitalisierung lernen kann.
Wie überführt man den Bestand des AKH, der zum Großteil aus CAD-Daten besteht, in ein DIM?
Lars Oberwinter: Das war dreistufig aufgebaut. Wir haben uns im ersten Jahr nur damit beschäftigt, die Daten und deren Flüsse zu erfassen. Da gab es ein riesiges altes CAD-System, wo die Daten gehalten wurden und viele weitere Systeme im operativen Einsatz. Es gab auch etwa zwölf Datenbanksysteme, die verschiedene Assetkategorien verwaltet haben. Unser Job war es, herauszufinden, was es überhaupt an verwertbaren Daten gibt und wie sie untereinander verbunden sind. Im zweiten Jahr haben wir Migrationskonzepte entwickelt und überlegt, welche Daten wir überführen und welche nicht. Die Frage war: Wie automatisiert kann man das durchführen? Da ging es darum, Schnittstellen zu entwickeln und die Qualität der Daten sicherzustellen. Und die letzten zwei Jahre haben wir die Migration begleitet und die Werkzeuge vorkonfiguriert, damit sie miteinander kommunizieren können. Insgesamt waren es 13 Hauptarbeitspakete mit 72 Einzelarbeitspaketen, das war ein Volumen von rund 15.000 Arbeitsstunden für uns als plandata. Wir haben uns mit dem Projekt also wirklich intensiv beschäftigt.
Inwiefern kann man die Überführung automatisiert durchführen?
Lars Oberwinter: Wenn die CAD-Daten bestimmte Anforderungen erfüllen, kann das gemacht werden. In der CAD-Welt gab es durchaus schon eine Objektorientierung. Das heißt, es sind nicht lose Linien oder Textblöcke, sondern Linienzüge, mit denen man auf die Objektart schließen kann. Sofern dies gegeben und auch maschinell erkennbar ist, kann man Automatismen bauen, die diese Objekte erkennen und klassifizieren. Daraus kann dann ein neues 3D-Modell erstellt werden. Das sind erstmal sehr grobe Geometrien, aber es sind trotzdem schon 3D-Objekte im neuen System, die auch schon die richtige Kennzeichnung und Verortung haben. Das ist aber keine schöne visualisierungstaugliche Geometrie, sondern reine Objektwürfel, die in den Plänen immerhin in ihrer alten 2D-Darstellung und richtig ausgerichtet ankommen.
Sie sind ja mit dem Begriff „Digitaler Zwilling“ nicht sehr zufrieden. Wieso?
Lars Oberwinter: Ich behaupte, dass es den Digitalen Zwilling gar nicht gibt. Man kann z. B. ein Fenster in BIM virtuell abbilden. Jetzt gibt es dieses BIM-Abbild noch einmal im CAFM - in einer Software, in der dieses Fenster im Betrieb verwaltet wird und in zumindest einem ERP-System. Und wenn wir in Richtung Planung oder Ausführung denken – da gibt es dasselbe Fenster noch einmal in einer Bauphysik- oder einer Haustechniksimulationssoftware. Und da sehen wir schon: Es gibt dasselbe, virtuelle Fenster als "Single Source of Truth" einfach nicht. Es gibt redundante, gleiche Geschwister desselben physischen Dinges und deshalb rede ich immer lieber von der digitalen Großfamilie als vom digitalen Zwilling. Der digitale Zwilling ist für jeden einzelnen Anwendungsfall vielleicht ein Zwilling, aber in Wahrheit hat er viele Geschwister, die es gilt abzustimmen und untereinander kongruent zu halten. Und das genau will digitales Informationsmanagement – zu organisieren, dass alle Geschwister einander kennen, verstehen und auch miteinander reden. Deswegen empfinde ich den Begriff Digitaler Zwilling als irreführend.
Was sind die größten Herausforderungen und Learnings, die Sie mit dem AKH-Projekt verbinden?
Lars Oberwinter: Von der rein technischen Ebene haben wir gelernt, dass in Sachen Datenmigration viel mehr möglich ist, als man sich in der Regel vorstellen kann. Man kann alte Daten sehr gut in neue Systeme überführen. Ich will nicht proklamieren, dass alles möglich ist, aber mit entsprechendem Aufwand ist sehr viel zu realisieren. Aber die Kehrseite der Medaille ist, dass das Changemanagement das eigentliche Kernthema ist. Die Herausforderung dabei ist, den Menschen beizubringen, dass elementbasiertes Arbeiten etwas anderes ist als dokumentbasiertes Arbeiten. Das war sicher eine der größten Herausforderungen, vor allem für unseren Kunden, der auf einmal seit langer Zeit etablierte Prozesse nicht mehr so durchführen kann. Es muss umgedacht werden, weil man es mit vollkommen anderen Prozessketten zu tun hat. Dieses Softtopic haben wir in der Tiefe am Anfang sicher nicht so erwartet.
Es sind rund 75 Prozent der Dinge, die wir standardisieren müssen, noch nicht standardisiert. Deshalb stehe ich mit dieser Norm mittlerweile auf Kriegsfuß, ich habe mich auch aus dem Normungsausschuss zurückgezogen.
Warum steckt BIM bei uns noch in den Kinderschuhen, während etwa in skandinavischen Ländern schon überwiegend mit der Methode gearbeitet wird?
Lars Oberwinter: Wenn wir uns direkt mit Skandinavien vergleichen, dann haben wir eine andere Grundeinstellung zu gewissen Themen. Das Beharren auf verfestigten Abläufen ist schon etwas, was für den deutschsprachigen Raum typisch ist. Da sind andere Kulturen einfach ein bisschen weniger voreingenommen oder von sich selbst überzeugt. BIM ist ja wirklich ein Gamechanger, weil damit in vielerlei Hinsicht ein echter Paradigmenwechsel verbunden ist. Da ist es klar, dass tradierte Facilitymanager, die noch mit dem Klemmbrett herumlaufen, ein bisschen Panik bekommen, weil es nicht in deren Arbeitskosmos passt.
Die EU-Kommission empfiehlt seit einigen Jahren, BIM bei öffentlichen Ausschreibungen zum Kriterium zu machen. Wären damit die kleineren Büros nicht stark benachteiligt?
Lars Oberwinter: Im deutschsprachigen Raum haben wir sehr viele Hürden, die es in anderen Ländern, in denen BIM schon in der Breite angewendet wird, nicht gibt. Wir haben hier einfach eine sehr spezielle Projektkultur, die die digitale Zusammenarbeit erschwert. Und es liegt vor allem auch daran, dass es keine Standards gibt. Solange es hier keine einheitlichen Regeln gibt, wird das Problem auch bleiben. Wir haben natürlich auch eine stark ausgeprägte Ingenieurstradition mit sehr spezialisierten Disziplinen – jeder kocht sein eigenes Süppchen. Und wir erwarten von unserer sehr kleinteiligen Branche mit durchschnittlich fünf Mitarbeitern pro Büro, sich alle nötigen Standards und das entsprechende Fachwissen in Eigenregie zu erarbeiten. BIM ist sehr kompliziert, das kann man nicht einfach so nebenbei lernen. Und das mach die Angelegenheit so zäh. Da sind andere Länder im Vorteil, weil sie viel weniger kleinteilig unterwegs sind.
In Österreich wird BIM von einer ÖNORM geregelt. Wie sind Sie mit dieser Norm zufrieden?
Lars Oberwinter: Ich war selbst acht Jahre an der Entwicklung dieser Norm beteiligt. Ich bin mit ihr gar nicht zufrieden, weil sie nicht fertig ist und seit fünf Jahren auf der Stelle steht. Es sind rund 75 Prozent der Dinge, die wir standardisieren müssen, noch nicht standardisiert. Deshalb stehe ich mit dieser Norm mittlerweile auf Kriegsfuß, ich habe mich auch aus dem Normungsausschuss zurückgezogen. Wir haben 2015 mit einem ersten Entwurf mit Attributen für den Hochbau begonnen, haben das aber nur für die Planungs- und Ausführungsphase definiert, obwohl wir wissen, dass es eine Betriebsphase und andere gibt. Wir haben die gesamte technische Gebäudeausstattung überhaupt nicht definiert – sie fehlt bis heute vollständig, genauso wie die ganzen späten Lebenszyklusphasen fehlen. All diese Dinge sind noch nicht definiert. Es fehlen auch verbindliche Modellierleitfäden usw. Das sind alles Mängel, die uns den täglichen Projekten sehr behindern.
Ein ganz großes Thema ist der Green Deal mit seinen Klimamaßnahmen. Das wird ein großer Hebel sein ...
ATP, ihr Mutterkonzern, verfolgt ja die Demokratisierung von BIM-Standards. Wie kann man das verstehen?
Lars Oberwinter: Wir haben unser gesamtes Wissen, wie man BIM erfolgreich einsetzt und wie man Standards benutzen könnte mit den zugehörigen Anleitungen kostenlos auf BIMpedia.eu online zur Verfügung gestellt. Auch stellen wir unsere Arbeits-Standards und Werkzeugkonfigurationen für kleines Geld anderen Büros zur Verfügung – auch direkten Mitbewerbern. Das ist das, was wir unter Demokratisierung von Wissen und Standards verstehen.
In der Vergangenheit haben Sie kritisiert, dass die größte Herausforderung für den effizienten Einsatz von BIM die mangelnde Ausbildung sei. Mit „BIMpedia.eu“ betreiben Sie eine eigene Wissensplattform, auch die Bildungsinstitute bieten mittlerweile eigene Lehrgänge an. Wie schätzen Sie die Situation aus heutiger Sicht ein?
Lars Oberwinter: Es ist besser geworden, es gibt definitiv mehr Angebot als noch vor einigen Jahren. Diese Kurse sind noch relativ teuer, was für kleinere Unternehmen eine große Hürde ist. An den Universitäten und FHs gibt es ein deutlich breiteres Angebot und als Student kommt man an dem Thema eigentlich gar nicht mehr vorbei. Ich glaube, dass da die Segel schon langsam gesetzt sind und das Thema endlich auch an den HTLs immer mehr verankert wird.
Interessant ist, dass sowohl die Baubranche als auch die Industrie ähnliche Ziele verfolgen, es läuft aber unter unterschiedlichen Begriffen ab. Was kann die Industrie mit ihrem Bestreben, digitale Zwillinge von Anlagen zu erstellen, von BIM lernen?
Lars Oberwinter: Datenmanagement. Es geht immer um die Frage: Welche Daten liegen in welcher Form vor? Diese Verzahnung von Planung, Procurement, Ausführung und baubegleitender Dokumentation – das sind die Fragen, wo die Industrien jetzt zusammenkommen müssen. Aber das sind genau die Standards, die uns eine Ö-Norm hätte geben können.
Welche technologischen Neuheiten sehen Sie im BIM-Bereich auf uns zukommen?
Lars Oberwinter: KI ist ganz stark im Kommen. Vielleicht löst sich damit das Problem der fehlenden Standards von allein – vielleicht nicht vollständig, aber KI wird sicher einen großen Impact haben. In der Planungsecke gibt es das Thema Generative Design, also die Möglichkeit der Automatisierung von Modellierprozessen. Und ein ganz großes Thema ist der Green Deal mit seinen Klimamaßnahmen. Das wird ein großer Hebel sein – wir werden schon bald in allen Lebenszyklusphasen eines Gebäudes viele Dinge ausweisen müssen, die wir nur digital ausweisen können.
Über die Person
Lars Oberwinter ist seit 2020 alleiniger Geschäftsführer der Plandata GmbH. Er ist tätig als Forschungsassistent am Lehrstuhl für Industriebau und interdisziplinäre Bauplanung der TU Wien. Weiters übt er Forschungstätigkeiten aus in den Bereichen interdisziplinäres BIM-Daten-Management, Prozess-Automatisierung, Schnittstellen- und Prozessoptimierung.