EU-Verordnung : Nasenspray mit Seriennummer

Eine völlig neue Produktion auf die grüne Wiese zu stellen ist eine Chance, die Unternehmen nicht oft bekommen. Der Wiener Arzneimittelhersteller Sigmapharm, spezialisiert auf Nasensprays und Augentropfen, realisiert so ein „Greenfield“ gerade im nordburgenländischen Hornstein. Rund 20 Mio. Euro investiert das Unternehmen hier, weil die Produktionsstätte in Wien-Brigittenau zu klein geworden ist und eine Erweiterung nicht möglich war. Doch mit der Investition in sterile und aseptische Abfüllanlagen alleine war es diesmal nicht getan: Dafür sorgt eine Verordnung der Europäischen Union, die sich gegen gefälschte Medikamente richtet. Ab 9. Februar 2019 muss jedes einzelne in der EU auf den Markt gebrachte rezeptpflichtige Medikament mit einer eindeutig identifizierbaren Seriennummer ausgestattet sein, die in einer europaweiten Datenbank registriert wird. Nach Schätzungen der Pharmig, dem Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs, sind das europaweit über 10 Mrd. Packungen, deren Seriennummern jährlich im sogenannten „European Hub“ ebenso wie in entsprechenden nationalen Datenbanken registriert und nach dem Verkauf ebendort auch nochmal ausgebucht werden müssen. Damit soll verhindert werden, dass gefälschte Medikamente innerhalb der europäischen Union in die legale Handelskette eingeschleust werden.

10 Cent Mehrkosten pro Packung

Bernhard Wittmann ist Geschäftsführer von Sigmapharm und der Produktionstochter MoNo. Er kann die Kosten, die für die produzierenden Pharmaunternehmen dadurch entstehen, wegen des aktuellen Neubaus exakt beziffern: „Pro Produktionsanlage sind das 400.000 Euro Mehrkosten an reinen Infrastruktur-Investitionen“, rechnet Wittmann vor. Dabei geht es nur um die Anschaffung von Maschine und Software, noch nicht um den laufenden Betrieb und auch nicht um die internen Kosten, die bei der Implementierung des Systems entstehen: Beispielsweise durch den erhöhten Kontrollaufwand, der zu einem Sinken der Chargenumsätze führen wird. Europaweit schätzt man die reinen Investitionskosten auf 14 Mrd. Euro, die laut Verordnung zur Gänze von den Pharmaherstellern getragen werden müssen. Pro Medikamentenpackung sind das laut Wittmann Mehrkosten von knapp 10 Cent. Bei teuren Produkten fällt das nicht nennenswert ins Gewicht, doch für einen Hersteller wie Sigmapharm ist das sehr wohl relevant, sagt der Geschäftsführer: „Unsere Produkte beginnen bei 83 Cent Großhandelspreis!“ Warum also eine Verordnung, die den Herstellern von tausende Euro teuren Spezialmedikamenten dieselben Infrastruktur-Vorgaben aufbürdet wie einem mittelständischen Hersteller von Nasensprays?

Globaler Markt für gefälschte Medikamente

Basis ist die sogenannte FMD-Richtlinie aus dem Jahr 2011. Ziel dieser „False Medicine Directive“ war es, den europäischen Konsumenten Sicherheit vor gefälschten Medikamenten zu garantieren. „Das ist grundsätzlich positiv zu sehen“, sagt Jan Oliver Huber, langjähriger Generalsekretär der Pharmig und einer der besten heimischen Kenner der Materie. Während in Österreich gefälschte Medikamente wegen der gut kontrollierten Lieferkette schon davor keine Rolle spielten, ist die weltweite Situation eine ganz andere: In Afrika und Asien seien in manchen Bereichen bis zu 80 Prozent der am Markt befindlichen Medikamente gefälscht – also nicht von dem Hersteller produziert, dessen Logo auf der Verpackung aufscheint. Ob man hier ein ohne Lizenz hergestelltes, aber wirksames Mittel, ein wertloses Placebo oder gar eine gesundheitsgefährdende Panscherei erwischt, grenzt an ein Glücksspiel. Als auch in europäischen Ländern Einzelfälle auftraten, beispielsweise in Spanien oder in Großbritannien, sah sich die EU zum Handeln gezwungen. Erster Schritt war die FMD-Richtlinie von 2011, der 2016 die entsprechende Verordnung mit der konkreten Ausgestaltung für die Umsetzung folgte – samt Datum der endgültigen Inkraftsetzung.

Doppelte Buchhaltung für Medikamente

„Die Pharmaindustrie übernimmt damit hoheitliche Aufgaben – nämlich die Sicherung der Gesundheitsversorgung“, so Huber. Die Fälschungsrichtlinie wird auf mehreren Ebenen wirksam. Im Zentrum steht das European Medicines Verification System (EMVS), der sogenannte European Hub. Hier melden die Hersteller all jene Medikamente an, die sie in Europa auf den Markt bringen wollen. Diese europäische Datenbank kommuniziert mit den 28 nationalen Pendants. In diesen nationalen Datenspeichern werden all jene Medikamente verzeichnet, die im jeweiligen Land von den Großhändlern in Verkehr gebracht werden. Wird also in einer österreichischen Apotheke ein Medikament verkauft, so wird das an an den heimischen Datenspeicher gemeldet (AMVS/Austrian Medicines Verification System), der die Daten mit seinem europäischen Gegenüber abgleicht und die Nummer ausbucht. Die Korrektheit des Prozesses überwacht die AMVO (Austrian Medicines Verification Organisation), als deren Vorstand Jan Oliver Huber bestellt worden ist. Ist ein Medikament wegen Doppelexport nicht im nationalen Datenspeicher, so übernimmt wiederum der European Hub die Koppelungsfunktion und gleicht den Datenstand mit dem Hub des Ausgangslandes ab. Dieser Vorgang wird sich kommenden Februar zehn Milliarden Mal pro Jahr wiederholen – doch wer sind die Unternehmen, die diesen Prozess auf europäischer Ebene am Laufen halten?

Wenige Anbieter für Maschinen und Software

Für das Endspiel konnten sich letztlich drei Datenbankanbieter qualifizieren, die alle laut Ausschreibung nötigen technischen und juristischen Ausschreibungen erfüllten. Den Zuschlag für den European Hub bekam Solidsoft Reply, ein ursprünglich britisches Unternehmen mit mittlerweile italienischen Eigentümern. Bei den nationalen Hubs hingegen hatte Arvato Systems, ein Tochterunternehmen des Bertelsmann-Konzerns, die Nase vorn und bekam in 17 der 28 Länder den Zuschlag für den nationalen Hub. Der dritte Finalteilnehmer, Agate Software aus den USA, ging leer aus. Die Datenbanklösung basiert auf der Cloud-Plattform Microsoft Azure. Alle Hersteller, die in Europa liefern wollen, müssen mit dem EMVS einen Partnervertrag abschließen, der ihnen Zugang zur Datenbank gewährt. Erst das ermöglicht es ihnen, den Aufdruck des defnierten 20-stelligen Serialisierungs-Code bei ihren Maschinen- und Softwarelieferanten anzubringen. Die Auswahl ist nicht groß, weiß Bernhard Wittmann: „Es gibt höchstens 20 Maschinenbau-Anbieter, die diese Anforderungen erfüllen können. Und für den obersten Software-Level, also die Anbindung an den European Hub, höchstens noch zehn.“ Dennoch sei es gelungen, in Österreich eine technisch und legistisch vernünftige Umsetzung auf die Beine zu stellen, die eine gleichbleibend hohe Versorgungssicherheit garantiere, so Wittmann. Doch mit den kaufmännischen Folgen dieses Prozess ist er nicht glücklich. Das betrifft vor allem die Auswahl der Medikamente, die im System berücksichtigt werden müssen.

Keine Preiserhöhung möglich

„Es gibt Produkte, wo auszuschließen ist, dass sie für Fälscher interessante werden könnten“, so der Sigmapharm-Geschäftsführer. Das betrifft die Inhaltsstoffe und vor allem den Preis: Einen rezeptpflichtigen Nasenspray mit einem Großhandelspreis von unter einem Euro zu fälschen, das ergäbe einfach für niemanden einen wirtschaftlichen Sinn. Dennoch bleibt Sigmapharm auf den Mehrkosten sitzen, denn eine Preiserhöhung ist in dem straffen Erstattungssystem für rezeptpflichtige Medikamente nicht möglich. Das bestätigt auch Jan Oliver Huber: „Nein, nach heutigem Stand wird das nicht passieren. Die Pharmabranche erfüllt damit eine gesetzliche Vorgabe zum Schutz unserer Konsumenten vor Fälschungen.“ Dass man einen „Serialisierungs-Cent“ auf jede Medikamentenpackung draufschlagen könne, wäre aus seiner Sicht sinnvoll, aber angesichts der hohen Preissensibilität und der engmaschigen Kontrolle dieses Marktes derzeit nicht umsetzbar. Für Wittmann ist klar, dass man bei der Ausgestaltung der Vorgabe auf die vielen kleinen Pharmaproduzenten schlicht vergessen habe: Ein Unternehmen wie die Sigmapharm-Gruppe, die nur knapp über 100 Mitarbeiter zählt, müsse nun die gleichen Investitionen tätigen wie ein großer Pharmakonzern.

Predictive Maintainance im Gesundheitswesen

Für Österreich hat sich Sigmapharm entschlossen, trotzdem die gesamte Produktpalette weiter verfügbar zu halten. Doch Wittmann ist sich sicher, dass in den kleineren Ländern etliche Medikamente in der unteren Preisklasse vom Markt verschwinden werden. Ein Hauptgrund dafür ist, dass die Rezeptpflicht in allen Ländern unterschiedlich gehandhabt wird. Hier für einen kleinen Markt ein niedrigpreisiges Medikament mit stark erhöhten Aufwand zu produzieren, ohne die Mehrkosten abdecken zu können, sei wirtschaftlich einfach nicht darstellbar – auch nicht für Sigmapharm, das sein Exportprogramm reduzieren wird.

Jan Oliver Huber ist daher davon überzeugt, dass sich das System in Zukunft auf europäischer Ebene weiterentwickeln wird. Denn potenziell biete die EMVS-Datenbank dem Gesundheitssystem riesige Möglichkeiten zu einer Optmierung des Gesundheitssystems. So sei etwa denkbar, Warenströme in einzelnen Ländern nachzuverfolgen und zukünftigen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken: „Es werden sich Lieferengpässe dank des Einsatzes eines geeigneten Algorithmus prognostizieren lassen, denen man rechtzeitig durch eine Verbesserung von Versorgung und Lagerhaltung entgegenwirken kann.“ Wenn die öffentliche Hand das will, könnte die Datenbank aller europäischen Medikamente also eine ähnliche Funktion übernehmen, wie es beispielsweise dem Asset Management im Maschinenbau zugeschrieben wird: Optimierte Lagerhaltung, Lenkung von Warenströmen und „Predictive Maintainance“ für das Gesundheitssystem auf europäischer Ebene. Sollten diese Vorteile erkannt und genutzt werden, werden die Spielregeln für alle beteiligten Stakeholder neu diskutiert werden. Dann macht es auch Sinn, Anti-Schnupfen-Nasensprays in einem aufwändigen Prozess mit Seriennummern auszustatten.