Mensch-Maschine-Produktion : Assistenzsysteme statt Stress
Im Forschungsprojekt MMAssist II entwickeln das AIT (Austrian Institute of Technology) und die oberösterreichische Forschungsgesellschaft Profactor gemeinsam mit knapp 20 Partnern aus Industrie und außeruniversitärer Forschung ein völlig neues Konzept für produktionsnahe Assistenzsysteme. Manfred Tscheligi (AIT/Center for Technology Experience und Universität Salzburg, Center for Human-Computer Interaction) und Christian Wögerer (Profactor) über den notwendigen Besuch beim Volk der Maschinenbediener, über die Relevanz unterschiedlicher Wahrnehmungen von Monteuren und Managern, was man bei einem Besuch im Wirtshaus für die Konzeption von Assistenzsystemen lernen kann und über Schritte zur Erhöhung der Produktivität im Hochlohnland Österreich.
Herr Tscheligi, Sie kommen aus dem Bereich Usability-Forschung, der in der IT seit Jahren bei der Konzeption von benutzerfreundlichen Computersystemen etabliert ist. Was sind für Sie dabei die Grundfragen?
Manfred Tscheligi: Ich komme aus der Wirtschaftsinformatik und beschäftige mich seit 30 Jahren mit den Schnittstellen zwischen Mensch und Technik und der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine. Die Leitfrage lautet: Was tut das System für mich? Wie unterstützt mich die Maschine als Benutzer? Das ist konträr zu dem klassischen Zugang vieler Techniker, die eine Technologie entwerfen und meinen, der Mensch muss sie dann halt bedienen lernen. Wir sagen, die Maschine muss dem Menschen bei der Benutzung helfen. Gerade wenn er unter Stress und Druck steht und dann noch mit neuen Situationen konfrontiert wird, benötigt er Unterstützung, um richtig reagieren zu können. Das geht so weit, dass wir bei IT-Systemen beispielsweise mittels Eye-Tracking durch ein Zögern bei bestimmten Situationen automatisch erkennen können, wenn der User Hilfe braucht, und das entsprechende Hilfe-Fenster aufgeht.
Was Sie beschreiben, ist in der IT schon gang und gäbe, hat aber in produzierenden Unternehmen noch nicht Eingang in die Fabrikshallen gefunden, oder?
Manfred Tscheligi: Das ist richtig, in der Produktion wird das noch selten eingesetzt und ist auch komplexer als bei einem Bildschirmarbeitsplatz. Aber um beim Beispiel des Eye-Trackings zu bleiben: Technisch können wir das längst auch bei einem Maschinenführer anbieten!
Herr Wögerer, damit kommen wir zum Thema Assistenzsysteme für die Produktion: Wie definieren Sie Assistenzsysteme?
Christian Wögerer: Assistenzsysteme im Produktionskontext sollen den Benutzerinnen und Benutzern kognitive oder physische Assistenz bei deren Aufgaben bieten. Um diese direkt im Kontext der Aufgabe unterstützen zu können, ist das Assistenzsystem entweder in der Produktionsanlage integriert oder wird dem Menschen als mobile Anwendung zur Verfügung gestellt. Bei Assistenzsystemen wird im Allgemeinen zwischen Primär-Assistenz und Sekundär-Assistenz unterschieden. Bei der Primär-Assistenz zeigt das Assistenzsystem den BenutzerInnen hilfreiche Informationen direkt auf der Benutzeroberfläche an, wodurch diese direkt sichtbar sind. Bei der Sekundär-Assistenz wird die Assistenz erst auf eine Anforderung zur Verfügung gestellt, wie zum Beispiel bei kontextfreien Hilfetexten.
Wodurch grenzen Sie Assistenz in Ihrer Definition von anderen produktionsunterstützenden Tools ab?
Wögerer: Assistenzsysteme, wie wir sie in dem Forschungsprojekt MMAssist II analysieren und entwickeln, unterscheiden sich von anderen produktionsunterstützenden Tools dadurch, dass hier ein profundes empirisches und soziotechnisch orientiertes Verständnis über Bedarf und Anforderungen an Assistenzsysteme im Produktionskontext berücksichtigt wird.
Halt! Da sind jetzt gleich mehrere Begriffe gefallen, die in der Sprache von Technikern nicht unbedingt heimisch sind. Was kann sich ein in der Produktion arbeitender Ingenieur hier unter „empirisch“ vorstellen und was ist ein „soziotechnisch orientiertes Verständnis“?
Tscheligi: Empirisch bedeutet ganz konkret, dass wir zu Beginn des Projekts über Assistenzsysteme reale Fakten erhoben haben. Wir sind in die Produktionshallen gegangen und haben nachgeschaut, wie es dort in der Realität zugeht: Wie arbeiten die Leute? Womit haben sie wirklich Probleme? Stimmt das, was wir nach den Vorgesprächen mit dem Management an Annahmen entwickelt haben, mit der Praxis überein? Wir waren in den meisten der 14 teilnehmenden Unternehmen mindestens zweimal mehrere Tage vor Ort, in einigen haben unsere ProjektmitarbeiterInnen sich sogar einschulen lassen und tatsächlich mehrere Wochen lang mitgearbeitet. Das ist ein großer Aufwand, der oft gescheut wird. Aus der Völkerkunde kennen wir den ethnographischen Ansatz, dass die Forschenden ein fremdes Volk besuchen und dort so lange bleiben, bis sie deren Leben verstanden haben. Ich nenne das unseren ethnographischen Ansatz: Wir haben das Benutzervolk in der Fabrik besucht, um deren Alltag zu verstehen.
Wögerer: Soziotechnisch bedeutet, dass wir die verschiedenen Gruppen in einem Unternehmen getrennt betrachtet haben, um zu einem umfassenden Bild zu kommen. Wenig überraschend hat sich dabei gezeigt, dass die Annahmen und die Probleme von Arbeitenden, mittlerem Management und Führungsebene nicht immer zu 100 Prozent deckungsgleich sind, um es vorsichtig zu sagen … aber nur so kommt man zu einem soziotechnisch umfassenden Gesamtbild. Nur muss ein Unternehmen das auch alles wissen wollen, und man muss es öfter und über mehrere Tage hinweg erheben dürfen – in Abstimmung mit Eigentümern, Management und Betriebsrat.
Sind die unterschiedlichen Sichtweisen der Berufsgruppen in einer Fabrik tatsächlich relevant für die Einführung neuer Technologien?
Tscheligi: Und wie! Ich kenne ein konkretes Beispiel, nicht aus dem aktuellen Forschungsprojekt wohlgemerkt, wo ein Unternehmen Roboter für die Produktion angeschafft hat, die unerklärlicherweise einer nach dem anderen ausgefallen sind. Wir wollten herausfinden, warum das so ist. Auf diesem Weg sind wir dahinter gekommen, dass das Management die Roboter ohne Information oder gar Beteiligung der Belegschaft angeschafft und den Operatoren vor die Nase gesetzt hat – und die haben durch Fehlbedienung oder auch absichtlich einen nach dem anderen kaputt gemacht. Beim Einsatz von neuen Systemen und Maschinen kann man viel Geld versenken, wenn man die Grundlagen nicht bedenkt!
Kehren wir zu der Frage zurück, wie sich Assistenzsysteme von anderen produktionsunterstützenden Tools unterscheiden, etwa von virtuellen Wartungsanleitungen oder von dem in der Industrie viel besprochenen Gamification-Ansatz.
Wögerer: Das sind einfach nur unterschiedliche Ausprägungsformen von Assistenzsystemen. Durch Gamification etwa werden neue Technologien spielerisch vermittelt. Das ist in der Industrie leider noch viel zu wenig verbreitet, meist weil der Ansatz für das Management zu unseriös rüberkommt, auch wenn die Belegschaft bei den Tests davon überzeugt ist. Auch in Wartungsfällen haben wir unterschiedliche Ausprägungen, die je nach Notwendigkeit von Zeichnungen über Videotutorials bis zu Skype-Verbindungen mit der Serviceabteilung reichen.
Tscheligi: Die entscheidende Frage bei Assistenzsystemen ist nicht die eingesetzte Technik, sondern die Zielfunktion – also was will ich erreichen? Geht es darum, eine Aufgabe schneller zu erledigen, die Fehlerquote zu reduzieren, die Akzeptanz neuer Technologien zu erhöhen, die Einschulungsphase zu verkürzen … gerade wenn es darum geht, eingefahrene und eingelernte Abläufe verändern zu müssen, helfen Asisstenzsysteme effizient bei der Umgewöhnung.
Warum wird Assistenz derzeit in der Industrie zu einem Thema?
Wögerer: Die Herausforderungen ändern sich. Wegen der eingesetzten Technologien werden immer mehr Spezialisten erforderlich, die angesichts des begrenzt verfügbaren Fachpersonals nicht leicht zu finden sind. Dazu kommt der Trend zu immer geringeren Stückzahlen bis hin zu Losgröße 1, dadurch häufigere Produktwechsel und höherer Individualisierungsgrad bei kürzeren Umrüstzeiten, einschichtiger Betrieb, geringere Einlernzeiten, zunehmende Mehrmaschinenbedienung … daher wird immer mehr automatisierte Assistenz notwendig.
Tscheligi: Trotz dieser steigenden und veränderten Anforderungen ändert sich aber die Wahrnehmungspsychologie des Menschen nicht: Wir schauen und nehmen Informationen noch immer auf die gleiche Art und Weise auf wie vor 200 Jahren, auch wenn wir nicht ein Mühlrad, sondern 20 oder 30 Maschinen gleichzeitig zu bedienen haben, und wir lassen uns von den gleichen Wahrnehmungen ablenken wie unsere Vor-Vorfahren. Das führt rasch zu Überforderung und zu Stresssituationen. Mit Assistenzsystemen augmentieren wir die Möglichkeiten des Menschen. Wir reichern seine Wahrnehmungsfähigkeit an.
Kommen wir zu dem Forschungsprojekt MMAssist II. Was war die „Zielfunktion“?
Wögerer: Ziel beim Einsatz von Assistenzsystemen im Produktionskontext ist aus Sicht der produzierenden Betriebe eine Steigerung der Produktivität der MitarbeiterInnen. Die Assistenz soll zu einer Verringerung der kognitiven, psychischen und physischen Belastungen führen. Sie soll Durchführungszeiten reduzieren, die für einen Arbeitsschritt benötigt werden, und zu einer Erhöhung der Genauigkeit und damit zur Prozess- und Produktqualität beitragen. Aus der Sicht der MitarbeiterInnen sind Assistenzsysteme in Bezug auf eine Steigerung der „User Experience“ in der Fabrik auszulegen. Dazu gehören neben der Verringerung von ergonomischen Arbeitsbelastungen die Erhöhung von Arbeitszufriedenheit und ein Gefühl von Kompetenz. Dafür haben wir einen neuen Ansatz für Assistenzsysteme gefunden, einen Mensch-zentrierten Ansatz.
Was ist das Neue an Ihrem Ansatz?
Wögerer: Neu sind die Assistenz-Units. Das sind wiederverwendbare, wissenschaftlich fundierte und umfassend evaluierte modulare Einheiten. Die Lösungen werden durch MitarbeiterInnen aus produzierenden Unternehmen unter den jeweiligen Kontextbedingungen validiert werden. Dies bringt Erkenntnisse über die Akzeptanz bei der Verwendung von Assistenzsystemen, und wird die Verringerung von Arbeitsbelastung für die Mitarbeiter messbar machen.
Was kann ich mir konkret unter „Assistenz-Units“ vorstellen?
Tscheligi: Die modularen Einheiten, die ein Assistenz-Problem lösen, sind bereits in Software-Architekturen umgesetzt. Wir haben insgesamt sieben solcher Assistenz-Units definiert, die Anwendungsfälle ausführlich analysiert und so aufbereitet, dass die Einheiten auch für andere Unternehmen mit ähnlichen Aufgabenstellungen einsetzbar sind. Dabei kann die Assistenz-Unit über Standardschnittstellen an alle Systeme angehängt und integriert und auf die jeweiligen Ausgabegeräte adaptiert werden: Also egal, ob es ein Tablet ist, ein HMI oder ein Smartphone, und auch das Betriebssystem ist frei wählbar.
Sieben Assistenz-Units: Welche sind das?
Wögerer: Jede Assistenz-Unit hat neben einem eindeutigen Titel und einer kurzen Beschreibung vor allem eine Definition, welche Wissensquellen die Assistenz-Unit benötigt, um korrekt zu arbeiten. Konkret geht es um folgende Einheiten:
1. Annotation von Artefakten: Diese Assistenz Unit ermöglicht es den BenutzerInnen, Anmerkungen, Beobachtungen, Fehlerursachen oder Besonderheiten festzuhalten oder zumindest einen Reminder zu setzen, dass hier etwas anzumerken ist. Schauen Sie in den Betrieben auf das Fahrerpult eines Gabelstaplers: Der ist voll mit Post-its, wo die Fahrer sich Besonderheiten notieren, aber nie wieder drauf schauen, weil das zugrundeliegende Problem eh nicht behoben wird.
2. Digitale Anleitungen: Die können von den Benutzern explizit angefordert werden oder durch intelligente Nutzerführung je nach Bedarf in den benötigten Situationen eingespielt werden.
3. Physische Assistenz: Das ist mein persönlicher Liebling unter den Units. Konkreteste Umsetzung ist eine Hubvorrichtung, die händisch voreinstellbare Höheneinstellungen hatte, die nie verwendet wurden. Jetzt haben wir eine automatische Einstellung der optimalen Montagehöhe auf die Körpergröße des Monteurs und auf die Notwendigkeit des jeweiligen Montageschritts.
4. Kollaborative Robotik: Dabei wird der Cobot als Assistenzsystem optimiert, sodass eine echte, nahtlose Zusammenarbeit mit einem menschlichen Partner möglich wird. Die Assistenz Unit erkennt, welche Schritte als nächstes folgen, und passt den Cobot daran an.
5. Statusinformation anzeigen: Vor allem in der Mehrmaschinenbedienung ist es nötig, die Lokalisation und die Identifikation einer Meldung nachvollziehbar zu machen, ebenso eine Einschätzung, wie kritisch die Meldung ist und eine dementsprechende Hierarchisierung der zu setzenden Schritte.
6. Kommunikation mit Experten: Diese Unit definiert und ermöglicht mehrere Stufen der Hilfestellung in der Fernwartung, von der einfachen Anleitung bis zum Telefonat mit dem Servicetechniker.
7. Dokumentation: Letzter Punkt ist die automatische Erstellung von Protokollen, wobei Sprache nur eine von mehreren möglichen Eingabeformen ist. Wichtig bei dieser Unit ist es, die Dokumentation ohne Beeinträchtigung oder gar Unterbrechung des Arbeitsfortschritts zu erstellen.
Welche Technologien nutzen Sie dafür?
Wögerer: Das reicht von der Messung und Analyse von Humanfaktoren wie etwa Aktivitäts- und Gestenerkennung oder der Messung biometrischer Faktoren bis zur Objektdetektion. Dafür werden in einem ersten Schritt 3D-Objekte modelliert, die im letzten Schritt eine Szeneninterpretation möglich machen und so Informationen über Aktionen und Objekte an einem Arbeitsplatz liefern. Wir verwenden Methoden zur Visualisierung komplexer Daten, Methoden der Mixed Reality, Methoden zur akustischen Interaktion und für robotergestützte Prozesse – wobei die eingesetzten Technologien austauschbar sind und auf jeden neuen Anwendungsfall adaptierbar sind. Unser entscheidender USP ist, dass wir den Menschen in den Mittelpunkt stellen.
Tscheligi: Wenn Sie das nächste Mal in ein Restaurant gehen, betrachten Sie den Kellner dort und das ganze Umfeld unter dem Aspekt, dass es sich dabei um ein Assistenzsystem zum Erkennen und Erfüllen Ihrer Bedürfnisse handelt: Sie werden rasch erkennen, wie viel Verbesserungspotenzial es dabei gibt, schon alleine, wenn Sie Ihr erstes Glas ausgetrunken haben und noch Durst haben. Und da braucht es noch lange keinen Serviceroboter, sondern nur Erfahrung beim Wahrnehmen Ihrer Bedürfnisse. Ähnlich ist es in den produzierenden Betrieben, vor allem bei KMUs ist da viel Luft nach oben. Ich traue mich zu wetten, dass in jeder Produktionssituation Assistenzbedürfnisse da sind, vor allem an der Schnittstelle Mensch-Maschine. Die Unternehmen müssen nur bereit sein, darüber nachzudenken, dann werden sie rasch erkennen, welch großen Beitrag automatisierte Assistenzsysteme zur Qualit.tsunterstützung in ihrer Fertigung leisten können. Unser Alleinstellungsmerkmal mit dem Projekt MMAssist II ist es, kognitive und physische Assistenz mit den Assistenz Units gleichermaßen leisten zu können, das ist derzeit weltweit ziemlich einzigartig.
Welchen Einfluss werden Assistenzsysteme auf die klassische Automatisierung haben?
Wögerer: Klassische Automatisierungssysteme werden bleiben, allerdings wird es flexiblere Lösungen geben mit geringeren Einlernzeiten. Das ist auf dem Weg zur Industrie 4.0 ein entscheidender Faktor.
Wie geht es mit MMAssist II weiter?
Tscheligi: Das dreijährige Forschungsprojekt wird im Herbst abgeschlossen sein, einige Folgeaktivitäten aus dem Projekt sind in der Entstehung. Am 14. Oktober gibt es in Linz mit dem erstmals durchgeführten MMP-Symposion (Mensch-Maschine-Produktion) sowohl einen Schlußpunkt, bei dem wir über die Ergebnisse und deren Verwertbarkeit in der Praxis reflektieren, als auch einen Ausblick auf die Zukunft der produktionsnahen Assistenz und ihre Rolle bei der Erhöhung von Produktivität und Qualität im Hochlohnland Österreich.