Kolumne „Wissenstransfer“ : Warum in die Ferne schweifen?

WEKA Industriemedien

Univ.-Prof. Friedrich Bleicher (links) ist gelernter Maschinenbauer und Vorstand des Instituts für Fertigungstechnik und Photonische Technologien an der TU Wien. Als diplomierter Betriebswirt der Universität Innsbruck und Maschinenbauingenieur kann Hannes Hunschofsky fast 40 Jahre Erfahrung in Führungspositionen bei namhaften Industrieunternehmen im In- und Ausland vorweisen.

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„Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.“
Johann Wolfgang von Goethe

Hervor mit dem bisher in der fertigungstechnischen Fachwelt vernachlässigten Werken Johann Wolfgang von Goethe. Es wird sich jetzt der geneigte Leser eines Gedankens nicht erwehren können; um beim Dichtervater zu bleiben, bei Faust, in Anlehnung an seine Reaktion auf das Hexeneinmaleins: „Mich dünkt, die Alte spricht im Fieber“ – oder eher „… die alten Zwei …“. Doch das Hexeneinmaleins geht so: „Aus Eins mach’ Zehn, und Zwei lass gehn, und Drei mach’ gleich, so bist Du reich …“. Das war unsere globale Wirtschaftsordnung in den letzten zwei, drei Dekaden.

Wir haben unsere Wertschöpfung in Billiglohnländer verlagert, dorthin, wo wir damit auch die Kaufkraft gestärkt und sich die Märkte entwickelt haben. Um ein anderes Werk Goethes zu zitieren: Der Zauberlehrling wollte den „billigen“ Besen für sich arbeiten lassen. Manchem/mancher Leser: in ist wohl noch nahe, dass in der Schweinezyklusdelle von 2003 wirklich Überschriften zu lesen waren, die da verlauteten, dass der Maschinenbau tot sei; in dem Hype um die aufkommenden Hyperscaler und das Internet man den Maschinenbau schon als alte und überholte Branche bezeichnet hat und man konstatierte, dass die Produktion sowieso in die Billigländer verlagert werde. Wie auch immer, eigentlich hat man dem Zauberlehrling auch noch gesagt, dass das Aufrufen des Besens auch ins Auge gehen kann. Die jüngsten Jahre haben nun aber deutlich gezeigt, was mit den Lieferketten und mit den Billigprodukten aus Fernost abgehen kann:

„Und sie laufen! Naß und nässer wirds im Saal und auf den Stufen. Welch entsetzliches Gewässer!!“

In den europäischen Häfen stauen sich die Containerschiffe und schütten Europa mit den Liefermengen an z. B. Textilprodukten zu. Wir haben eine europäische Lösung dafür, denn wir greifen bei Überschreiten der jährlichen Kontingentierung gekonnt auf die Liefermengen des kommenden Jahres zurück. Dank der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen sehen wir hier keine Einschränkung. Dies gilt für fast alle Branchen und es seien an dieser Stelle nur die Photovoltaik, die Batterietechnik und jetzt aufkommend das elektrische Auto genannt. Bei anderen Produkten und Branchen wird es jetzt subtiler: Man dreht uns den Hahn zu! Ganz etwas Neues! Der Besen kommt nicht mehr zurück oder wenn, dann ist der Krug leer. Noch subtiler: man kauft den Brunnen auf! Ob das der Meister später auch noch alles beherrschen kann? Der ist ja bekanntlich außer Haus oder sitzt womöglich in den USA und schaut uns in Europa zu. Derzeit liefert er Fracking-Gas und -Öl, um seinen Spaß mit uns weiterzutreiben. Und er liefert zu seiner Strategie auch gleich Bericht, den „Reshoring Initiative 2022 Data Report“.

Jetzt lauten die Themen der vorliegenden Ausgabe aber „Automatisierung / Standortsicherung / Re-Shoring“ und nicht „Literaturgeschichte“, oh Entschuldigung, „Strategische Ausrichtung der Produktion“. Wo stehen die verschiedenen Branchen in Sachen Automatisierung, was brauchen die Unternehmen, welche Rolle kann Automatisierungstechnik spielen – in Qualitätssicherung, Produktivitätserhöhung, Ersatz für fehlende Arbeitskräfte?

Man könnte dazu schreiben: Wir brauchen einen Meister, der uns irgendwie wieder zur Vernunft bringt. Das Dogma des Wohlstands auf Kosten der Souveränität hat uns dorthin geführt, wo wir stehen. Wenn jetzt noch jemand formuliert „es geht uns aber eh noch gut“, dann bitten wir, das Weiterlesen zu beenden. Unsere Wirtschaft funktioniert im Querschnitt nur, wenn wir Konjunktur-Hochperioden verzeichnen, der Staatshaushalt selbst ist dann nicht mehr ausgeglichen, wie wir gerade beweisen. Es wäre Gebot, die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und dazu gehören Schlüsselthemen als Voraussetzung, die offensichtlich nicht mehr unter Kontrolle stehen: die Verfügbarkeit von Rohstoffen zu wettbewerbsfähigen Preisen, weil nicht preistreiberisch kontrolliert. Dazu gehört Energie zu vernünftigen Preisen. Dazu gehört eine Leistungsgesellschaft, die auch noch will. Dazu gehört aber auch die technologische Kompetenz, effiziente Prozesse zu fahren und dies in einer digitalisierten, globalisierten Welt. Sich in die Nischen der High-End- Produkte zurückzuziehen funktioniert nur so lange, bis jene Wirtschaften, welche die Massenproduktion beherrschen, nicht der Meinung sind, auch diese zu erobern. Und das kann ja auch geduldig vonstattengehen, wie in einer zeitlichen Skalierung mindestens des chinesischen Fünfjahresplans zu sehen ist: Steter Tropfen höhlt den Stein, es muss nicht immer die Überschwemmung durch die Besen sein.

Blicken wir für das Leitthema in verschiedene Richtungen über unsere Grenzen. Ein Unternehmen aus Japan erwirtschaftet mit ca. 6.000 Mitarbeiter: innen rund 6 Mrd. Dollar Umsatz. Oh! Man dividiere und ermittle den Pro-Kopf-Umsatz. Ein Unternehmer aus Deutschland muss seinen Kund:innen auf seiner Website fast schon aus Frustration über deren Unverständnis per Video-Botschaft erklären, dass bei seiner Produktionskompetenz der Preis für gefertigte Bauteile unabhängig von der Stückzahl ist. Wie das alles geht? Mit Automatisierung, so viel wie nur denkbar. In Japan ist es der Produktionsstandort zur Herstellung von Maschinen- und Steuerungstechnik mit der größten Anzahl an eingesetzten Robotern, in Deutschland ein kluges Automatisierungskonzept eines Lohnfertigers, der als KMU firmiert. Es ist wirklich so, in Japan brennt kein Licht mehr in der Fertigung; nur mehr dort, wo man dem geneigten Besucher die Technologiekompetenz zeigen möchte. Meister-Würde hängt also nicht von der Unternehmensgröße ab.

Wo stehen wir in Sachen der Automatisierung? Die Großen in unseren Breiten sind hier natürlich gut aufgestellt und auf dem Weg, das ist Existenzgrundlage. Die Kleinen und Mittleren sind wohl in dem Status gefangen, dass man mit der Maschinentechnik hochproduktive Einheiten betreibt, in dieser Komplexität aber auch gefangen ist. Die Verkettung von Automat zu Automat fehlt weitestgehend. Das ist aber irgendwie Philosophie: Während in Japan, selbst augenscheinlich wahrgenommen, eine CNC-Maschine als selbstständig laufenden Anlage interpretiert wird, eine Schicht gerüstet wird und in zwei Schichten möglichst mannlos bei mäßigen aber stabilen Schnittdaten gearbeitet wird, interpretieren wir bei uns eine CNC-Maschine als einen Werkzeugschlüssel, an dem der Werker laufend drehen muss, um die letzte Produktivität herauszuholen; dies allerdings in drei Schichten Anwesenheit. Der Paradigmenwechsel wäre hier empfehlenswert.

Wo stehen die verschiedenen Branchen? Wenn es diese denn noch gibt, die Möbelindustrie, die Textilindustrie … man kann sich die Antwort schon selbst ableiten. In Nischen eben, in High-End-Produkten. Allgemein müssen wir uns das Technologiedreieck aus Produkt-, Maschinen- und Prozesskompetenz bewahren. Der Weg in jeder Produktion, und es sind hier nicht die Nischenprodukte gemeint, kann nur über die Technologiekompetenz und vor allem über deren Anwendung – und Absicherung – führen; nicht das Wie offenlegen, nicht das Know-how transferieren. Automatisierung, Digitalisierung und irgendwo auch die Nachhaltigkeit sind unabdingbares Gebot. Themen sind die Anwendung von Sensorik, Datenanalyse und -verwertung, der Einsatz von autonomen Funktionen in den Maschinen und Anlagen, über Machine Learning und KI ertüchtigt, wodurch die mannlose Fertigung ermöglicht wird. Auf diese Themen muss gesetzt werden, dann gelingt auch das Re-Shoring in Europa, wo es aber auch noch einen europäischen Plan bräuchte.

Es wäre ein EU-Report 2023 wünschenswert, wo wir dann auch in der EU erfolgreiche Zahlen liefern. Wir sollten auch ein entsprechendes Selbstbewusstsein als drittgrößte Population unseres Wirtschaftshabitats nach Indien und China an den Tag legen. Es braucht die Meister, die den Zauberlehrlingen bei allem Bemühen zeigen, wo es langgeht und wir wieder aufzeigen „… wo der Bartl den Most holt!“ Ob dieses Zitat auch von Goethe kommt, lässt sich googeln ... es wäre dieses Getränk in jedem Fall bekömmlicher als Wasser.

„WALLE, WALLE …“

Über die Kolumne

In „Wissenstransfer“ reflektieren zwei Masterminds der Produktionsszene an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis, wie aktuelle Aufgaben der Automatisierung mit innovativen Technologien und kreativen Zugängen gelöst werden können. Homebase der beiden ist das österreichisch-deutsche Forschungsprojekt EuProGigant: EuProGigant ist das Leitprojekt für GAIA-X im Produktionsumfeld zum Aufbau eines standortübergreifenden, digital vernetzten Produktionsökosystems.