Zwei Ökonomen, zwei Meinungen : Die Deindustrialisierung Europas gibt es nicht
Für manche ist es ein Schreckgespenst, für andere Tatsache. Die Deindustrialisierung Europas gehört derzeit zu den beliebtesten Themen der Ökonomie. Doch die Experten geben Entwarnung, es sei in erster Linie ein deutsches Problem: “Österreich sticht hervor durch eine sehr dynamische Industrieproduktion seit 2017. Deutschland ist seit 2017 de facto in einer Industrierezession Das geht sowohl aus dem Produktionsindex als auch aus der Brutto-Wertschöpfung in der Industrie hervor. Wenn man von einer Deindustrialisierung Europas spricht, dann ist das sehr pauschal. Für Deutschland sieht es aber definitiv nicht gut aus”, so WIFO-Chef Felbermayr.
AK-Chefökonom Marterbauer, der in seinem vor Kurzem erschienenen Buch “Angst und Angstmacherei” vor ökonomischer Panik warnt, sieht derzeit keinen Grund zur Sorge. “Am Produktionsindex sieht man, dass seit 2017 die österreichische Industrie die deutsche überflügelt. Der Unterschied zwischen Deutschland und Österreich ist wirklich so eklatant, dass ich mich frage, ob man das in allen Details wirklich erklären kann. Deutschland leidet unter einer Konsumschwäche, die es in Österreich in der Form nicht gibt. Unsere Stärken sind der Maschinenbau, viele Metalltechnikbereiche, die in den letzten Jahren exzellent gelaufen sind. Das sind Investitionsgüter, von denen wir auch im Export enorm profitieren.
Auswirkungen von Automatisierung und KI
Ein Thema, das die Industrie noch lange beschäftigen wird, ist der Fachkräftemangel. Auch wenn Marterbauer generell urteilt, dass der Arbeitskräftemangel in Wahrheit ein Problem von prekären und unattraktiven Arbeitsverhältnissen ist, sieht er im Bereich der Industrie tatsächlich einen Mangel. Vor wenigen Wochen sorgte eine Studie von Goldman Sachs für großes Aufsehen: Rund 300 Millionen Jobs weltweit seien einem großen Automatisierungsrisiko ausgesetzt. Doch könnte das nicht auch eine Antwort auf den eklatanten Fachkräftemangel in der Industrie sein?
"Die Auswirkungen der Automatisierung sieht man, weil wir gerade in der Industrie ganz gute Produktivitätssteigerungen haben. Die Stundenproduktivität steigt jährlich im Ausmaß von zwei bis vier Prozent, je nach Konjunktur. Aber es ist natürlich schwer zu sagen, welche Auswirkungen KI auf die Zahl der Jobs haben wird. Aber aus den Erfahrungen vergangener technologischer Revolutionen kann man einiges lernen. Alle technologischen Revolutionen, beginnend von der Erfindung der Dampfmaschine bis zur Computerisierung, hatten eigentlich insgesamt nie negative Beschäftigungseffekte. Das heißt, es sind zwar konkrete Tätigkeiten obsolet geworden, aber die Leute, die diese Tätigkeiten bislang erfüllt haben, haben dann andere Tätigkeiten übernommen und die Jobs sind nicht verloren gegangen. Und ich glaube, die Aufgabe ist vor allem zu schauen, dass die neuen Tätigkeiten produktiver werden und die Einkommensentwicklungen entsprechend angepasst werden”, so Marterbauer.
Felbermayr sieht in der technologischen Entwicklung vor allem für Industrienationen wie Österreich großes Potenzial. Im Gegensatz zu Marterbauer ortet er in der Industrie jedoch keinen großen Bedarf an Attraktivierung der Arbeitsverhältnisse - die Industrie habe da schon vieles geleistet, um die Fachkräfte zu halten. “Wenn man sich die Zahlen ansieht, dann sieht man, dass die Industrie, auch im Vergleich zu anderen Sektoren, der Bereich ist, wo in Österreich die Produktivität am stärksten wächst. Das ist der Einsatz von kluger Technologie, der in Zukunft noch viel wichtiger sein wird. Deswegen glaube ich, die Angst, dass dort Jobs verschwinden, sollte eher der freudigen Erwartung weichen, dass wir mit neuen Technologien in der Lage sein werden, der Arbeitskräfte in Knappheit entgegenzuwirken und Österreich als Industriestandort weiter attraktiv zu halten. Ich bin jedoch nicht der Meinung, dass man den Fachkräftemangel mit Gesetzen lösen kann. Die Menschen wollen frei entscheiden, was zu ihrem Lebensstil passt und man muss den Mangel durch solche Maßnahmen nicht noch zusätzlich künstlich verknappen”, erklärt Felbermayr.
Skepsis gegenüber Förderpolitik
Schon vor der Pandemie und den darauf folgenden Krisen zielte die EU mit Fördermaßnahmen darauf ab, strategisch wichtige Industriesektoren wieder nach Europa zu bringen. Durch den Chipmangel, der vor allem die deutsche Automobilindustrie stark ins Wanken gebracht hat, haben sich diese Anstrengungen stark intensiviert. Doch die Experten sehen hier großen Nachholbedarf, wenn man sich im Wettbewerb mit den Industriegroßmächten China und den USA durchsetzen will.
Ich glaube, in der Praxis sieht man noch nicht sehr viel davon. Ich würde es aber trotzdem nicht als Wunschvorstellung bezeichnen, weil das einfach sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Das ist ein längerfristiger Prozess, es muss das Qualifizierungssystem in diese Richtung umgestellt werden, es müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Aber ich glaube, das ist grundsätzlich eine richtige Geschichte. Insbesondere, weil ja auch jetzt gerade in der Energiekrise noch einmal klarer wurde, dass man unabhängiger von externen Zulieferern werden muss”, so Marterbauer.
Felbermayr hat vor Kurzem in einem Interview das Ende der 30 glorreichen Jahre der Globalisierung verkündet. Doch den Umkehrschluss, dass sich die europäische Industrie wieder stärker in die Heimat verlagert, sieht der Ökonom noch nicht: “Da muss man wirklich mit der Lupe suchen. Es stimmt, dass die Lieferketten tendenziell kürzer werden. Aber die Effekte sind klein. Die Auswirkungen der IPCEI-Förderprojekte sieht man in den Daten noch nicht, da ist noch nicht wirklich etwas Großartiges passiert. Da müssen wir erst abwarten, bis diese Dinge anlaufen und auch tatsächlich die Produktion anläuft. Aber ich rechne mir nicht aus, dass es da Nettoeffekte für die Industrieproduktion in Europa geben wird, weil die Facharbeiter, die insgesamt knapp werden, dann in die geförderten Branchen gehen und aus anderen Sektoren abgezogen werden. Deswegen bin ich skeptisch, ob man mit solchen Fördermaßnahmen ein Revival der Industrie-Wertschöpfung in Europa hinkriegt.”
Gedämpfte Erwartungen
Die beiden Ökonomen sehen für die kommenden Jahre große Herausforderungen auf die europäische Industrie zukommen. Die globale Wirtschaftslage und die damit verbundenen hohen Zinsen werden Felbermayr zufolge zu einer Stagnation führen: “Es ist ein Jahr von sehr verhaltenem Wachstum. Das heißt, auch die Nachfrage nach österreichischen Maschinen weltweit explodiert nicht gerade. Und in Zeiten hoher Zinsen ist das auch nicht verwunderlich. Und ich denke, dass die Phase dieses niedrigen Wachstums jetzt ein paar Jahre anhalten wird.” Dennoch sieht er keine Deindustrialisierung auf uns zukommen, das Wachstum werde lediglich hinter den vergangenen Jahren liegen. “Das werden keine stürmischen Zeiten für die Industrie”, so Felbermayr.
Marterbauer sieht hingegen eine große politische Bringschuld, das Bildungssystem und die Arbeitsverhältnisse an die neuen Anforderungen anzupassen, um im globalen Wettstreit nicht ins Hintertreffen zu geraten. “Die Facharbeitskräfte in der österreichischen Industrie, sind die Arbeiterkinder der Vergangenheit, die eine Lehre gemacht haben, sich nach oben gearbeitet haben und heute gut verdienen. Die Arbeiterklasse von heute sind Zugewanderte. Und wir investieren viel zu wenig, um die Kinder aus bildungsfernen Migrantenhaushalten in unsere guten Arbeitsplätze in der Industrie zu integrieren. Und das ist meine Sorge, dass unser Bildungssystem nicht ausreichend mit den Anforderungen mithält”, so Marterbauer.
Über die Gesprächspartner
Markus Marterbauer ist Chefökonom der Arbeiterkammer Wien und Lektor an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie der Universität Wien.
Gabriel Felbermayr ist Direktor des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung (WIFO) in Wien und Universitätsprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien.