Virtuelle Inbetriebnahme : Software first, Hardware second
Was KI nicht kann, dazu hat der Gründer von Selmo Technologies eine klare Meinung: „Wenn eine künstliche Intelligenz einen Prozess eigenständig ändert, dann wird es unkontrollierbar“, sagt Markus Gruber. Denn nach seiner Analyse funktioniert eine Anlage grundsätzlich deshalb, weil sich der Mensch für die Maschinen ein bestimmtes Verhalten ausgedacht und diesen das auch beigebracht hat. Ändert nun eine andere Instanz den Prozess, lagert der Mensch die Entscheidung darüber an eine Instanz aus, die er nicht beherrscht. „Das lehne ich ab“, so Grubers klare Stellungnahme. Und doch setzt sein Unternehmen zunehmend auf KI in der Modellierung von Prozessen. Wie geht das zusammen?
Die Liefersituation am Weltmarkt ist ein Booster für die Virtualisierung.
Was bei der Inbetriebnahme bisher falsch läuft
Dazu beschreibt Markus Gruber, was heute passiert, wenn ein Unternehmen eine Maschine kauft. „Die Kunden bestellen um drei Millionen Euro eine Maschine, bekommen sie nach 18 Monaten geliefert, haben da schon 90 Prozent der Kosten zu tragen – und wissen noch nicht, ob die Maschine so funktioniert wie vereinbart!“ Das liegt daran, dass die Software erst mit der Inbetriebnahme getestet werden kann. Erst jetzt wird begonnen, Programmfehler auszubessern und Fehlfunktionen zu korrigieren, damit die gewünschten Funktionen abgenommen werden können. Das sei ein „Testen gegen eine unendliche Zahl von Fehlfunktionen“, so Gruber – und beginne erst, nachdem die Maschine schon aufgebaut worden sei.
Der digitale Maschinenkauf wird mit KI möglich
Selmo Technologies geht den umgekehrten Weg. Gruber: „Wir erzeugen ein Abstraktionsmodell des gewünschten Prozesses im Selmo Studio und fügen dann Schritt für Schritt die Details hinzu, bis ein digitaler Zwilling des Prozesses entsteht.“ Für die virtuelle Modellierung wird ein 3D-Modell aus dem CAD kinematisiert. Das Modell stellt dar, wie sich eine Machine in der Realität verhält. Durch KI kann dann im echten Betrieb das Modell von der realen Maschine lernen. Deep Learning oder Machine Learning kann heute schon komplexe Bewegungen und physikalische Zusammenhänge berechnen. Dieser neue Weg hat einen ganz praktischen, betriebswirtschaftlich relevanten Effekt: Er verändert den Beschaffungsprozess im Maschinenbau – und ermöglicht den digitalen Maschineneinkauf.
Nur 5 Prozent der Beschaffungskosten
„Digitalisierung im Maschinenbau bedeutet, dass wir nicht mehr zuerst die Hardware denken, sondern die Software.“ Zuerst kommt das generische Modell der Maschine, deren Entwicklungskosten nur 5 Prozent der gesamten Beschaffungskosten ausmachen. Erst wenn das Modell funktioniert, entscheidet der Kunde, ob er die passende Hardware anschafft, also genau diese Maschine auch bauen lässt. Zusätzlich ist er dann bei der Wahl seiner Komponenten- Lieferanten frei, denn das Modell kann ja auf jeder Hardware laufen.
Die Inbetriebnahmezeiten werden durch die virtuelle InbetriebnahmeStandards als Basis verkürzt und vereinfacht.
Standards als Basis
Otto Auer, Leiter Automatisierungstechnik bei igm Robotersysteme in Wiener Neudorf, bestätigt die Praxistauglichkeit der Vorgangsweise: „Das SPS-Programm war vor dem E-Plan fertig! Das hat es noch nie gegeben, darauf waren wir sehr stolz.“ Möglich wird das durch die konsequente Einhaltung von Standards. Selmo orientiert sich am IEC 61131-3 Standard und an der darauf aufbauenden Entwicklungsumgebung Codesys. „Der alte Programmierstil wurde durch eine Vereinheitlichung mit einem neuen Standard ersetzt. Durch die standardisierte Programmiermethode erreichen die Programme eine einheitliche Qualität unabhängig vom Bearbeiter.“ Genau hier sieht der erfahrene Automatisierer vielleicht den größten Vorteil: „Die Inbetriebnahmezeiten werden durch die virtuelle Inbetriebnahme verkürzt und vereinfacht.“
Liefersituation zwingt zum Umdenken
Markus Gruber versteht sich als „Digitalisierungsbegleiter“. Gerade im Maschinenbau mache es die Digitalisierung nötig, neue Wege zu denken. Der Maschinenbau ist derzeit enorm unter Druck bei der Suche nach verfügbaren Hardware-Komponenten. „Die aktuelle Liefersituation am Weltmarkt ist in diesem Sinne ein Booster für die Virtualisierung“, beschreibt Gruber einen Nebeneffekt dieses umgedrehten Prozesses, der immer mehr in den Mittelpunkt rückt. Mit seinem Ansatz ist es möglich, die Maschine fertig zu planen – „und wenn die Hardware dann endlich da ist, sind wir sofort in Betrieb!“ Oder anders gesagt: Die Krise der Lieferketten zwingt den Maschinenbau endlich zum Umsetzen vernünftiger, kostengünstigerer Konzepte. In diesem Sinne ist KI ein Dienstleister für den Entwickler – und nicht die Instanz, die den Weg vorgibt. Denn das bleibt der Mensch.