Künstliche Intelligenz : Dr. Algorithmus: bitte warten

Wohin die Reise geht, wissen wir spätestens seit den frühen Folgen von Star Trek.

Wenn Dr. Leonard Horatio McCoy, der Schiffsarzt der Enterprise, liebevoll auch „Pille“ genannt, eine Diagnose stellen musste, dann nahm er seinen Tricorder (TRI-function reCorder) zur Hand. Das portable Allzweckgerät mit mehr als 200 Sensoren war sozusagen das "Schweizer Messer" des modernen Arztes des 23. Jahrhunderts. Mit ihm konnte er Blutdruck, Puls, Blutzucker und den Grad einer Verletzung bestimmen – und wenn es sein musste, auch den Mineralgehalt eines Felsen. Über sein "PADD" (Personal Access Display Device) bekam "Pille" dann über das sprachgesteuerte LCARS (Library Computer Access and Retrieval System) Zugang zu Datenbanken und zum Zentralcomputer. Und der weiß alles über Krankheiten, Diagnosen und Therapien.

Von der Utopie zur Realität

Künstliche Intelligenz in der Medizin war für die "Star-Trek"-Drehbuchautoren Mitte der

1960er Jahre eine Selbstverständlichkeit. Sie hatten es leicht, sich Supercomputer vorzustellen, die schnell und exakt Diagnosen und Therapievorschläge stellen konnten. In der Realität dauerte es freilich Jahrzehnte, bis Computer Rechenleistungen und Speicherkapazitäten zur Verfügung hatten, die zumindest einen Hauch von "künstlicher Intelligenz" umsetzen konnten. Heute ist das anders. Rechnerkapazitäten und Speicher wären vorhanden. Aber können Computer den Menschen bereits in der Diagnose und Therapie ersetzen?

Fünf-Jahres-Plan für KI-Anwendungen

"Wir werden in den nächsten fünf Jahren einen starken Einzug der künstlichen Intelligenz in der Medizin sehen", sagt Günter Klambauer vom LIT AI (Lab & Institute for Machine Learning) der Johannes Kepler Universität in Linz. "Aber nicht bei umfassenden Anwendungen, sondern in ganz speziellen Bereichen, vor allem in der bildgebenden Diagnostik." Grund dafür sind unter anderem die Fortschritte in der Entwicklung von künstlichen neuronalen Netzwerken. Mit diesen, dem menschlichen Gehirn nachempfunden Programmiermethoden, können Computer mit entsprechend großer Speicher- und Rechenkapazität dazu gebracht werden, selbstständig zu lernen. Dabei können Sie vor allem in jenen Bereichen reüssieren, in denen bisher Menschen Computern haushoch überlegen waren: In der Interpretation von gesprochener Sprache oder von Gesichtern, beziehungsweise Bildern im Allgemeinen. "Deep learning" ist dabei das neue Schlagwort: Dabei werden Computer dazu gebracht, Rohdaten, etwa Pixel-Punkte von Bildern, von der ersten Eingabe-Schicht an immer tiefer liegende „Neuronen“-Schichten weiterzugegeben – um diese immer genauer zu analysieren. "Durch diese Methode ist es in der Bilderkennung in den letzten Jahren zu enormen Fortschritten gekommen", sagt Klambauer.

Machine Learning: Erfolge in der Dermatologie

Besonders in der bildgebenden Diagnostik kann die künstliche Intelligenz durch "Deep learning" mittlerweile beachtliche Erfolge vorweisen. Das jüngste Beispiel stammt etwa aus der Dermatologie. Im Herbst 2018 traten 58 Hautärzte aus 17 Ländern gegen eine auf einem neuronalen Netzwerk basierende künstliche Intelligenz im Erkennen von Melanomen an. Dabei mussten Ärzte und KI-Programm Bilder von Muttermalen beurteilen und erkennen, ob diese "ohne Befund" wären, beziehungsweise ob sie sich schon zu einem Melanom, also Hautkrebs, weiterentwickelt hatten. Das Ergebnis: "Der Computer schnitt genauso gut ab wie die Ärzte", sagt Klambauer. Ähnlich Ergebnisse gab es 2016 auch bei der Beurteilung von Brustkrebszellen. 32 unterschiedliche KI-Programme traten dabei gegen ein Team aus elf Pathologen an. Sieben der Programme brachten dabei bessere Ergebnisse als die Ärztegruppe, die besonders Mikrometastasen übersahen. Auch bei Mammografie-Röntgenbildern können mittlerweile KI-Programme eine gleich hohe, wenn nicht höhere Trefferquote bei der Erkennung von Brustkrebszellen erzielen, wie erfahrene Radiologen. Ebenso können Bilder aus einer Darmspiegelung von KI-Programmen während der Untersuchung innerhalb von einer Sekunde darauf untersucht werden, ob ein Polyp gutartig oder bösartig ist. Trefferqoute: 93 Prozent. "Man kann davon ausgehen, dass in den nächsten fünf Jahren künstliche Intelligenz bei bildgebender Diagnostik Einzug in den Kliniken halten wird", sagt Klambauer.

Durchbrüche - und Rückschläge

Siemens Healthineers, aber auch Philips, GE Healthcare oder Canon bieten bereits KI-unterstützte Systeme für Röntgen-, Computer-, und Magnetresonanztomografie an. Betont wird freilich immer, dass KI-Systeme Ärzte nur unterstützen, sie aber nicht ersetzen können. Denn den großen KI-Durchbruch, wo "Dr. Chip" einen Menschen ersetzt, hat es bislang freilich noch nicht gegeben, eher im Gegenteil: So ist das von IBM entwickelte KI-System "Watson" im Vorjahr heftig in die Kritik gekommen. Der US-amerikanische Computerkonzern, der schon lange mit künstlicher Intelligenz experimentiert, hatte Watson als semantische Suchmaschine entwickelt. Der Computer sollte den Sinn von Fragen erkennen und blitzschnell in großen Datenbanken nach den richtigen Antworten suchen und diese auch finden – zum Beispiel für die besten Therapievorschläge für Krebspatienten. Das funktioniert grundsätzlich: 2011 konnte die IBM-Intelligenz in einem TV-Quiz gegen einen Menschen gewinnen, was als großer PR-Erfolg gefeiert wurde. Eine Revolution

für die künstliche Intelligenz, ähnlich dem, als der IBM-Schachcomputer "Deep Blue" 1996 erstmals den amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparov besiegen konnte.

Allerdings liegt der Teufel manchmal im Detail. Auf dem Medizinfachportal „Stat News“

wurden 2018 Dokumente veröffentlicht die zeigten, dass Watson, dessen künstliche Intelligenz ebenfalls auf lernfähigen neuronalen Netzwerken aufbaut, plötzlich auch versagen konnte. So empfahl das System etwa Krebspatienten falsche Therapien und verordnete ihnen Medikamente, die diesen mehr geschadet als genützt haben würde. IBM wies die Kritik zwar zurück. Erstens habe man Watson in der Zwischenzeit verbessert. Er arbeite schon mit 13 Krebsarten, werde überdies in 230 Spitälern eingesetzt und habe schon die Behandlung von mehr als 80.000 Patienten unterstützt.

Zudem habe die American Society of Clinical Oncology Watson kürzlich für Behandlungsempfehlungen gelobt.

Vergessliche KI

Die Erfahrungen mit umfassenden KI-Systemen in der Medizin, die quasi den Menschen in Diagnose und Therapie ersetzen sollten, bleiben aber immer noch durchwachsen. Was, wenn die künstliche Intelligenz vergisst, dass er es gerade mit einem Menschen und nicht mit einer Maschine oder einer Mikrobe zu tun hat? Im Internet kursieren Videos, wo KI-Roboter plötzlich wild um sich schlagen, in der Bewegung steckenbleiben, oder in der Sekunde "vergessen" wozu sie eigentlich programmiert worden sind. In der Medizin wäre das besonders heikel. Erst kürzlich berichtete der Spiegel, dass Watson im Einsatz an deutschen Kliniken auch deutlich weniger intelligent war als erhofft. So wollte man an den Rhön-Kliniken in Marburg Watson in einem 12-monatigen Pilotprojekt auf Herz und Nieren überprüfen und ihn besonders dort einsetzen, wo Expertise gefragt sei, etwa beim Erkennen von seltenen Krankheiten. Watson machte sich bei den Ärzten aber nicht beliebt. Bei Brustschmerzen zum Beispiel tippte die künstliche Intelligenz nicht auf die wahrscheinlichsten Diagnosen, etwa Herzinfarkt, Angina pectoris oder Aortenriss, sondern schlug stattdessen eine seltene Infektionskrankheit vor. Die Klinik ließ den Vertrag auslaufen.

Gymnastik statt Bilderkennung

"Umfassende KI-Systeme sind sicher noch störanfällig", sagt AI-Experte Klambauer. "Da ist sehr viel Komplexität drinnen. Aber neuronale Netzwerke sind lernfähig." Allerdings gehen Entwicklungen manchmal auch nicht Hand in Hand. So haben Forscher von der University of California mit KI-Programmen an Gehirnscans die Alzheimererkrankung im Schnitt sechs Jahre vor dem üblichen Diagnosetermin erkennen können. Diese Früherkennung hat freilich einen Wermutstropfen. Derzeit ist Alzheimer nicht heilbar und mit Medikamenten nur für kurze Zeit aufhaltbar.

Auch bildgebende Verfahren sind in der Medizin Fluch und Segen zugleich. Durch den Einzug der MRT-Befundung bei Rückenschmerzen hat sich etwa die Zahl an Bandscheibenoperationen in Deutschland in einigen Regionen fast verdoppelt. Die Crux dabei: Der Großteil davon wäre nicht notwendig gewesen, schreibt Alexander Kraft in seinem im Mai erscheinenden Buch:"Messer weg". "Ärzte verlassen sich heute viel zu sehr auf MRT-Bilder." Denn die meisten Bandscheibenvorfälle wären, sofern Sie

nicht zu Lähmungserscheinungen führen, konservativ behandelbar, mit Schmerztherapie und anschließendem Muskelaufbau. Für KI-Experten Klammbauer ist aber auch da noch nicht das letzte Wort gegen den Einsatz von künstlicher Intelligenz gesprochen. "Es kommt immer darauf an, was man neuronalen Netzwerken beibringt. Da könnte auch die Therapieempfehlung Krankengymnastik ausgeworfen werden."