Digital Engineering : Mehr als nur eine Werkzeugsammlung

Dass Anlagenbetreiber zu wenig über ihre Maschinen wissen, ist seit 20 Jahren bekannt. Und auch digitale Werkzeuge werden im Engineering seit Jahrzehnten benutzt. Warum der Durchbruch für Digital Engineering und Asset Management aber erst jetzt möglich geworden ist, erklärt Michael May, Leiter Application Support & Training von Lenze Automation.

Wodurch unterscheidet sich Digital Engineering von bisherigen genutzten, ebenfalls digitalen Methoden wie CAD-Modellen oder Simulationsrechnungen?

Michael May: Die aufgezählten Methoden sind Werkzeuge, die zum Digital Engineering dazugehören. Zum digitalen Planungsprozess und die virtuellen Inbetriebnahme gehören noch weit mehr Werkzeuge und weit mehr strukturierte Informationen über Hard- und Software, damit wir von Digital Engineering sprechen können. Darüber hinaus will ich, wenn ich eine Anlage beschrieben und definiert habe, ja auch gleich eine Bestellung für die Komponenten auslösen – das alles und noch viel mehr macht Digital Engineering aus. Es geht um die Unterstützung der Entwicklung und der Produktion einer Maschine mit digitalen Werkzeugen, und zwar über die gesamte Laufzeit der Maschine im Lebenszyklus, das heißt auch für den laufenden Betrieb.

Seit wann kann man von Digital Engineering sprechen?

May: Bei Lenze ist Digital Engineering, also webbasierte digitale Werkzeuge für den Entwicklungsprozess, seit über 10 Jahren ein Thema. Ich selbst bin seit sechs Jahren bei Lenze für Application Support und Trainings verantwortlich, das heißt auch für den Kompetenzaufbau im Bereich Industrie 4.0. Wir haben bald erkannt dass die Tools ideal für Trainingszwecke sind. Software kann man schwer erklären, wenn man sie nicht erleben kann, da ist „virtual comissioning“ perfekt. Auch die virtuelle Inbetriebnahme lässt sich mit unseren Möglichkeiten schon seit einigen Jahren simulieren und trainieren.

Heute mit Standards von morgen

Für die flächendeckende Anwendung außerhalb von Trainingszwecken bedarf es noch einiger Standardisierungen, denn Ihre Kunden bewegen sich ja nicht nur in einer, sondern zwischen verschiedenen Produktwelten. Wie weit ist die Industrie bei der Entwicklung dieser Standards?

May: Um dieses Thema kümmern sich einige internationale Industrie 4.0-Organisationen wie die Plattform Industrie 4.0/ZVEI oder die OPC-Foundation. Am bekanntesten ist die Entwicklung im Bereich der industriellen Kommunikation, hier geht es in Richtung OPC UA TSN. Ich persönlich bin überzeugt, dass es bei der Realisierung sehr rasch gehen wird, sobald die Standardisierungen vorliegen. Denn die Vernetzung ist getrieben vom Endanwender, der diese Anwendungen auch nutzen will. Wir warten jedenfalls schon darauf und arbeiten aktiv daran mit!

Wer heute in eine Anlage investiert, tätigt eine Investition auf 15-20 Jahre. Worauf sollte man dabei achten?

May: Es ist sicher der richtige Weg, kleine Schritte zu gehen und auf Standards zu setzen, die jetzt schon verfügbar sind. Für Schlüsselbereiche wie Performance, Qualität oder Anlagenverfügbarkeit gibt es diese schon. Wir bei Lenze sind mit unseren IIoT- und Cloud Services da sehr gut aufgestellt. Es ist heute darauf zu achten, zukunftsorientierte Software- und Kommunikationsstandards einzusetzen. Diese lassen sich in Zukunft einfach erweitern und auf neue Standards anpassen, denn die heute eingespielte Software wird nicht für den gesamten Lebenszyklus anwendbar sein. Bestehende Anlagen müssen auf die Anforderungen von Losgröße 1 bis hin zur flexiblen Produktion erweiterbar sein. Wir als Lenze bieten deshalb unser modulares Softwarekonzept FAST an.

Lernen vom Millenium-Bug

Ein Thema, das bei Lenze derzeit stark in den Vordergrund rückt, ist Asset Management. Welche Rolle spielt das im Digital Engineering?

May: Das ist ein zentrales Thema für den Anlagenbetreiber. In Bestandsanlagen ist das aber nicht einfach. Hier geht es oft darum, die Daten erst einmal zu ermitteln, die Komponenten zu identifizieren und in eine strukturierte Datenbank zu integrieren. Das ist mit viel Aufwand verbunden. Wir arbeiten gerade an Pilotprojekten, mit denen wir die Verfügbarkeit und Kompatibilität dieser Informationen sicherstellen. Das wird ein ganz wichtiger Schritt in Richtung Industrie 4.0.

Warum wurde das Thema Asset Management so lange übersehen? Wurde unterschätzt, wie wichtig es ist, seine Anlage zu kennen oder hat es an Tools gefehlt?

May: Ich denke, das Thema ist sogar noch älter, als oft gedacht wird. Ende der 1990er-Jahre hatte ich viel mit dem sogenannten Millenium-Bug zu tun. Die erste Frage, die da oft zu klären war, lautete: Was habe ich überhaupt alles in meinem E-Schrank? Schon damals wurde erkannt, wie wenig viele Leute über ihre Anlagen wissen und wie wichtig das wäre.

Genau das meinte ich: Die Problematik ist seit 20 Jahren bekannt. Warum ist in dieser Zeit nicht mehr passiert?

May: Das Thema war damals IT-getrieben, es kam nicht vom Maschinenbauer selber. Heute ist das anders, der Bedarf kommt vom Maschinenbauer, der sich nun sehr stark mit digitalen Geschäftsmodellen beschäftigt, und vom Anlagenbetreiber, der seine Produktivität steigern möchte. Außerdem haben wir heute eine IT-Infrastruktur, die es noch nicht sehr lange gibt. Das betrifft vor allem kleinere und mittlere Unternehmen, die sich da keine großen Investitionen leisten können: Dank Cloud-basierter Lösungen und SAAS-Modellen müssen sie kein technisches und finanzielles Risiko mehr eingehen, um dieselben Möglichkeiten nutzen zu können wie große Konzerne. Mit über 250 IT-Mitarbeitern ist Lenze in diesen Themen sehr gut aufgestellt und kann hier Standardlösungen oder auch maßgeschneiderte IIoT-Lösungen anbieten.

Durchgängige Tool-Chain

Die SPS IPC steht vor der Tür, was bietet Lenze im Bereich Digital Engineering konkret an?

May: Wir bieten bereits eine durchgängige Tool-Chain für Digital Engineering an! Außerdem bieten wir unseren Kunden ein modulares Softwarekonzept sowie Kommunikationsstandards für die horizontale und vertikale Kommunikation, die auf Industriestandards setzen. Es gibt schon Kunden, die komplett auf Lenze setzen und von der Planung über die Dimensionierung und Implementierung bis zu Diagnose und Fernwartung alles mit uns machen und dazu auch unsere Cloud-Angebote nutzen. Wir sind jetzt in der Phase, in der wir mit unseren Kunden sprechen, definieren, was die richtigen nächsten Schritte sein sollten und sie auf dem Weg begleiten. Das beinhaltet auch maßgeschneiderte Trainingsangebote. Es vergeht heute schon kein Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt ein Kunde eine Schulung von uns nutzt.