Auf die Applikation kommt es an

Sichere Mensch-Roboter-Kollaboration: Von der Theorie zur Praxis Letztlich ist die sichere MRK-Applikation das Ergebnis des Zusammenspiels normativer Rahmenbedingungen, einer darauf aufbauenden komplexen Risikoanalyse, der Auswahl eines Roboters mit den entsprechenden Sicherheitsfunktionen, der Auswahl der passenden, zusätzlichen Sicherheitskomponenten und schließlich der Validierung durch einen Systemintegrator. Klassisch schafft man in der Industrie Sicherheit, indem Maschinen und Anlagen mit verschiedenen mechanischen Schutzeinrichtungen umgeben werden. So wird durch die strikte Trennung der Arbeitsbereiche größtmögliche Sicherheit erreicht. Um das wirtschaftliche Potenzial der MRK zu heben, müssen Werker und Maschine möglichst eng miteinander arbeiten können. Daher steigt die Nachfrage nach intelligenten, dynamischen Sicherheitslösungen mit einer flexibleren Anpassung der Sicherheitsfunktionen an die sich verändernden Schutzanforderungen.

Normen für MRK

Roboter sind unvollständige Maschinen im Sinne der Maschinenrichtlinie. Für detaillierte Sicherheitsanforderungen stehen die beiden Normen ISO 10218 »Safety of Industrial Robots« Teil 1: »Robots« und Teil 2: »Robot systems and integration« zur Verfügung. Die deutschen Fassungen beider Teile sind als EN ISO 10218-1:2011 und EN ISO 10218-2:2011 veröffentlicht und als harmonisierte C-Normen unter der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG gelistet. Im Teil 2 »Robotersysteme und Integration« finden sich auch Angaben zum kollaborierenden Betrieb.

Bei der Planung einer MRK-Applikation ist die Auswahl des Roboters für den Systemintegrator ein wesentlicher Punkt. In der EN ISO 10218-1 sind auch sichere Antriebsfunktionen enthalten. Dazu zählen nach EN61800-5-2 (Elektrische Leistungsantriebssysteme mit einstellbarer Drehzahl – Teil 5-2: Anforderungen an die Sicherheit – Funktionale Sicherheit) zum Beispiel: Sicherer Betriebshalt SOS, Sichere begrenzte Geschwindigkeit SLS, Sicherer Geschwindigkeitsbereich SSR und Sicher begrenztes Moment SLT.

Die Anforderungen an »sicherheitsbezogene Teile der Steuerung« (Elektrik, Hydraulik, Pneumatik und Software) sind in der EN ISO10218-2 Robotersysteme und Integration im Kapitel 5.2 klar festgelegt. Die sicherheitsbezogenen Teile der Steuerung müssen so entworfen werden, dass diese PLd in Kategorie 3 (ISO 13849-1:2006) oder SIL2 mit Ein-Fehlertoleranz und einem MTTFd von mindestens 20 Jahren (IEC 62061:2005) entsprechen.

Für die Verifikation und Validierung der Sicherheitsanforderungen sind unterschiedliche Methoden anzuwenden, darunter optische Kontrollen, praktische Tests und Messungen. Insgesamt muss der Systemintegrator über 200 Punkte verifizieren bzw. validieren.

Die Normenlage ist also in der Theorie eindeutig. In der Praxis stellt sich jedoch die Frage, ob man mit diesem Normengerüst eine MRK sicher umsetzen kann. Um Lösungswege aufzuzeigen, wurde das internationale Normengremium ISO/TC 184/SC2 WG3 beauftragt, die Technische Spezifikation ISO/TS 15066 »Robots and Robotic Devices – Collaborative industrial robots« zu erarbeiten. Als Mitglied in diesem Internationalen Normengremium arbeitet Pilz, Komplettanbieter für die sichere Automation, mit Roboterherstellern, Integratoren, Prüfstellen (notified bodys, wie BG) und anderen Automatisierungsunternehmen aktiv an der Ausgestaltung mit. Die ISO/TS 15066 »Robots and Robotic Devices – Collaborative industrial robots« konkretisiert hier Lösungen zu einer sicheren Mensch Roboter Kollaboration im industriellen Umfeld.

Körperzonenmodell für Schmerzschwellenwerte

Im Anhang der Technischen Spezifikation (TS) wurde ein Körperzonenmodell festgelegt. Das Modell definiert in den entsprechenden Körperzonen Punkte mit Angaben zur jeweiligen Schmerzschwelle. Das Körperzonenmodell macht zu jedem Körperteil (z.B. am Kopf, an der Hand, am Arm oder am Bein) eine Angabe zur jeweiligen Schmerzschwelle, die den Beginn der Schmerzgrenze markiert. Bleibt die Anwendung während einer Begegnung zwischen Mensch und Roboter innerhalb dieser Grenzen, so ist sie normenkonform.

Eigene Norm für Persönliche Assistenzroboter im nicht-industriellen Bereich

Die erste Sicherheitsnorm, die sich mit dem direkten Kontakt zwischen Mensch und Roboter im nicht-industriellen Robotikbereich auseinandersetzt, ist die ISO 13482 (Robots and robotic devices – safety requirements for personal care robots). Die ISO 13482 wurde als C-Norm in der internationalen Normenarbeitsgruppe ISO/TC 184/SC2 WG 7 erarbeitet in der auch Pilz aktiv mitgearbeitet hat. Die Norm wurde als ISO-Fassung am 1. Februar 2014 veröffentlicht.

Schritte zur sicheren MRK-Applikation

Bei der Umsetzung der normativen Vorgaben bedeutet die Einstufung als Maschine im Sinne der Maschinenrichtlinie, dass für Roboterzellen das Konformitätsbewertungsverfahren Schritt für Schritt zu durchlaufen ist. Zu beachten ist, dass der Roboter an sich nur eine unvollständige Maschine darstellt – erst durch Greifer bzw. das für die jeweilige Applikation notwendige Werkzeug erhält der Roboter einen bestimmten Zweck und muss als vollständige Maschine betrachtet werden. Der Integrator oder Anwender wird zum Hersteller der Maschine und ist für die sicherheitstechnische Überprüfung inklusive CE-Kennzeichnung verantwortlich.

Einer der wichtigsten Punkte auf dem Weg zur sicheren Roboterapplikation ist das Erstellen einer Risikoanalyse gemäß EN ISO 12100. Zu den Inhalten der Risikoanalyse zählen die Ermittlung der geltenden harmonisierten Normen und Vorschriften, die Bestimmung der Grenzen der Maschine, die Ermittlung sämtlicher Gefahren innerhalb jeder Lebensphase der Maschine, die eigentliche Risikoeinschätzung und -beurteilung sowie die empfohlene Herangehensweise zur Reduzierung des Risikos. Die Herausforderung der »Risikobeurteilung« bei Roboterapplikationen besteht darin, dass sich die Grenzen der beiden Arbeitsbereiche von Mensch und Maschine auflösen. Zusätzlich zu den Gefahren, die vom Roboter ausgehen, müssen die Bewegungen des Menschen berücksichtigt werden. Diese sind jedoch nicht immer kalkulierbar mit Blick auf Geschwindigkeit, Reflexe oder plötzlichen Zutritt zusätzlicher Personen.

Auf Basis der Risikoanalyse folgen die Schritte »Sicherheitskonzept« und »Sicherheitsdesign« inklusive Auswahl der Komponenten. Mit den aus »Risikoanalyse« und »Sicherheitskonzept« gewonnenen Ergebnissen werden die ausgewählten Sicherheitsmaßnahmen in der Risikobeurteilung dokumentiert und im Schritt »Systemintegration« umgesetzt. Es folgt die »Validierung«, in der die vorangegangenen Schritte nochmals reflektiert werden: Sind die Schutzmaßnahmen korrekt umgesetzt? Wurde das Sicherheitskonzept im Zusammenhang mit der Maschinensteuerung richtig konzipiert und nach den Sicherheitsbestimmungen umgesetzt? Eine Validierung ist essenziell für den Beweis, dass Maschinen sicher sind. Zusätzliche Hilfestellung bei Roboterapplikationen bieten dabei die Checklisten der EN ISO 10218-2. Schließlich bestätigt der Integrator mit der Anbringung der CE-Kennzeichnung, dass die Roboterzelle mit ihren zugesicherten Eigenschaften bei bestimmungsgemäßer Verwendung allen gesetzlichen Anforderungen der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG und Auflagen entspricht.

Auswahl des Roboters und der Sicherheitskomponenten

Am Markt ist eine Vielzahl von Robotersystemen verfügbar, die für unterschiedliche Einsatzgebiete geeignet sind. Sie sind zwar die Ausgangsbasis einer sicheren Roboterapplikation, doch bedarf es immer einer sicherheitstechnischen Betrachtung der Applikation sowie zusätzlicher Komponenten und Systeme, um sichere MRK realisieren zu können.

Das komplette Abschalten als Reaktion auf ein sicherheitstechnisch relevantes Ereignis kann nur noch die letzte aller Möglichkeiten sein. Es sind also nicht mehr nur einfache logische Verknüpfungen, die Reaktionen auslösen sollen, sondern mitunter vielschichtige Zustände oder die Ergebnisse komplexer Berechnungen, auf die die Sicherheit angemessen reagieren muss.

Um Arbeitsbereiche, in denen Mensch und Maschine kollaborieren, auch ohne trennende Schutzeinrichtungen sicher gestalten zu können, werden künftig deutlich intelligentere Sicherheitssysteme benötigt. Diese können Teil der Steuerung des Robotersystems selbst sein, beispielsweise zur sicheren Berechnung der Bewegungen des Roboters. Damit kann die Bahn des Roboterarms vorausberechnet werden. Um das Schutzziel zu erreichen, werden allerdings in vielen Fällen solche sicheren Motion-Funktionen nicht ausreichen. Es werden oft Kombinationen nötig sein, bestehend aus einer Nahfeldabsicherung (zum Beispiel taktile Sensoren oder Infrarot-Sensoren am Roboterarm), persönlicher Schutzausrüstung (Schutzbrille und -kleidung) sowie sicherer Sensorik für die Überwachung des Schutzraums.

Für dynamische Sicherheitskonzepte müssen diese Sensoren zu einer deutlich abgestuften Betrachtung von Ereignissen in der Lage sein. Sie sollten beispielsweise unterscheiden können, ob sich ein Mensch im potenziellen Aktionsraum einer gefahrbringenden Bewegung aufhält (Warnraum) oder bereits eine Zone mit erhöhter Sicherheitsanforderung betreten hat (Schutzraum). Diese Räume müssen sich dynamisch anpassen lassen und beispielsweise den Bewegungen der Maschine oder eines Roboters folgen. Das sichere 3D-Kamerasystem SafetyEYE von Pilz ist in der Lage, Warn- und Schutzräume dreidimensional sicher zu überwachen. Ein Verbund von Sensorik, Steuerung und Aktorik eröffnet neue Freiheitsgrade bei der Planung von dynamischen Prozessabläufen und von Arbeitsbereichen in denen Mensch und Roboter sicher interagieren.

Zusammenfassung

Die Interaktion zwischen Mensch und Roboter erfordert zunehmend neue Techniken und Lösungsansätze, damit eine sichere Zusammenarbeit gewährleistet werden kann. Praktisch jede Roboterapplikation ist anders. Erst durch die Umsetzung des Sicherheitskonzepts mit der richtigen Auswahl von Roboter mit seinen Sicherheitsfunktionen sowie die Kombination mit intelligenten Sicherheitskomponenten führt dies zur sicheren Roboterapplikation. Die Sicherheit spielt bei Roboterapplikationen eine zentrale Rolle. Aufgrund der angestrebten möglichst engen Kollaboration zwischen Mensch und Maschine wurden bereits neue Normen veröffentlicht. Der Wunsch der Industrie nach »kräftigen« Robotern für MRK wird die zukünftige Herausforderung werden, um die normativen Vorgaben zur funktionalen Sicherheit einzuhalten. www.pilz.at